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Braunes" Gedankengut" in Deutschland
in Gesellschaft 19.11.2011 08:34von Lisadill • 744 Beiträge
Türkischstämmige Politiker für mehr Engagement im Kampf gegen Rechts
Als Konsequenz aus der Neonazi-Terrorserie haben deutsche Politiker türkischer Herkunft die Bundesregierung aufgefordert, den Kampf gegen rechtes Gedankengut zu verstärken. Mehrere Abgeordnete von Europa-, Bundes- und Landesebene unterzeichneten einen parteiübergreifenden Aufruf, der der Tageszeitung "Die Welt" (Samstagsausgabe) vorliegt. Darin heißt es: "Weit über zehn Prozent der Bevölkerung vertreten rechtsextreme Meinungen. Diese zu ändern und zu bekämpfen bedarf es einer deutlichen Ächtung und einer Vielzahl von Maßnahmen. ...
RE: braunes" Gedankengut" in Deutschland
in Gesellschaft 20.11.2011 10:42von Lisadill • 744 Beiträge
Schutzschirm für Nazis
Von Claudia Wangerin
Die Innenminister Thüringens, Sachsen-Anhalts und Niedersachsens, Jörg Geibert, Holger Stahlknecht und Uwe Schünemann (alle CDU) mit Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU/v.l.) am Freitag in Berlin
Foto: dapd
Der Personenkreis, gegen den wegen der Mordserie der kürzlich in Sachsen und Thüringen aufgeflogenen Terrorzelle »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) ermittelt wird, weitet sich aus. Bisher wurden der Gruppe drei Personen zugerechnet: Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos, die am 4.November tot in einem ausgebrannten Wohnmobil in Eisenach gefunden wurden, sowie die in Untersuchungshaft sitzende Beate Zschäpe. Auch der mutmaßliche Unterstützer Holger G. ist in Haft. Ein weiterer Mann, Matthias D., wird verdächtigt, in Zwickau Wohnungen für das untergetauchte Trio angemietet zu haben. Gegen die beiden Männer werde wegen Unterstützung ermittelt, bestätigte Generalbundesanwalt Harald Range am Freitag in Berlin. Zwei weitere Verdächtige wurden nicht namentlich genannt. Zschäpe will zunächst weiter zu den Vorwürfen schweigen.
Darüber hinaus wurde bekannt, daß die drei Hauptverdächtigen 1998 kurz nach ihrem Untertauchen von Zielfahndern aufgespürt worden waren. Ein Sondereinsatzkommando der Polizei habe die Möglichkeit zum Zugriff gehabt, sei aber im letzten Moment zurückgepfiffen worden, berichtete der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR) am Freitag unter Berufung auf das Thüringer Landeskriminalamt. Demnach soll es nach dem abgebrochenen Zugriff massive Beschwerden von seiten der Einsatzkräfte gegeben haben.
Bei einem »Krisengipfel« in Berlin einigten sich die Innen- und Justizminister von Bund und Ländern am Freitag auf Maßnahmen im Bereich Rechtsextremismus. Was es auf polizeilicher Ebene schon seit zehn Jahren gibt, nämlich eine zentrale Datei für politisch rechts motivierte Gewalttäter, stellte Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) bei dieser Gelegenheit als Neuheit vor, denn nun sollen auch geheimdienstlich erhobene Daten mit einfließen. Neben einem »Abwehrzentrum Rechts« soll eine neue Verbunddatei geschaffen werden, in der die bestehenden Dateien der Polizeibehörden und Verfassungsschutzämter zusammengefaßt werden. Letztere sind in der 2001 angelegten »Remo«-Datei nicht enthalten. Das Kürzel steht für »rechts motiviert«; in der »Limo«-Datei werden analog dazu Linke gespeichert; die »Aumo«-Datei erfaßt »Straftäter politisch motivierter Ausländerkriminalität«. Für die drei Präventivdateien verliehen Bürgerrechtler dem Bundes kriminalamt im Jahr 2002 den Negativ-Preis »Big Brother Award«.
Dadurch konnte jedoch weder die 2000 begonnene Mordserie an neun Kleinunternehmern türkischer und griechischer Herkunft gestoppt noch der Mord an einer jungen Polizistin in Heilbronn im Jahr 2007 verhindert werden. Die drei mutmaßlichen Haupttäter Uwe Mundlos, Beate Zschäpe und Uwe Böhnhardt waren seit den frühen 90er Jahren in der rechten Szene aktiv, wurden bereits 1998 wegen Vorbereitung eines Sprengstoffanschlags gesucht und sollen sich nach Ablauf der Verjährungsfrist im Jahr 2003 bei der Staatsanwaltschaft Gera gemeldet haben. Im »Thüringer Heimatschutz« waren sie vor ihrem Abtauchen von einem Führungskader angeleitet worden, der sich später als V-Mann des Verfassungsschutzes entpuppte.
Am Selbstmord von Böhnhardt und Mundlos gibt es inzwischen erhebliche Zweifel. »Solche Tätertypen bringen sich in der Regel nicht selbst um«, sagte Hamburgs ehemaliger Innensenator und Expolizeipräsident Udo Nagel in Bild (Freitagausgabe), nachdem er für eine Sondersendung des TV-Senders RTL2 (»Ungeklärte Morde Spezial«) zahlreiche Ermittler und Zeugen befragt hatte. Augenzeugen hätten von einem lauten Streit zwischen mindestens zwei Personen in dem Wohnmobil gesprochen, so der ehemalige Polizeichef.
RE: braunes" Gedankengut" in Deutschland
in Gesellschaft 21.11.2011 23:12von Jonas • 615 Beiträge
Bei der TAZ gibt es auch einen Themenschwerpunkt dazu:
http://www.taz.de/Schwerpunkt-Rechter-Terror/!t178/
RE: braunes" Gedankengut" in Deutschland
in Gesellschaft 23.11.2011 08:40von Lisadill • 744 Beiträge
"Die derzeit schwer in die Kritik geratenen Sicherheitsbehörden erhielten unterdessen Beistand von Bundestagspräsident Norbert Lammert. Für ihn sei unvorstellbar, daß »ganze Landesbehörden für Verfassungsschutz« eine Kumpanei mit V-Leuten »geduldet oder gar organisiert hätten«. Das »kann und will ich mir nicht vorstellen«, äußerte der CDU-Politiker am Dienstag im Deutschlandfunk. Die Ausführungen Lammerts erstaunen indes schon, hatte doch bisher niemand »ganze Landesbehörden« der Kumpanei mit Neofaschisten bezichtigt"
http://www.jungewelt.de/2011/11-23/059.php
RE: Braunes" Gedankengut" in Deutschland
in Gesellschaft 24.11.2011 09:11von Lisadill • 744 Beiträge
http://www.jungewelt.de/2011/11-24/051.php
Schande für Deutschland
Schutzschirm für Nazis und Kriegsverbrecher in den Ämtern für Verfassungsschutz. Unterschätzung der rechten Gefahr hat historische Wurzeln
Von Gotthold Schramm
RE: Braunes" Gedankengut" in Deutschland
in Gesellschaft 25.11.2011 18:16von Lisadill • 744 Beiträge
"10Inhalt
Unter Vertrauensleuten
Hintergrund. Rechtsterrorismus in der BRD: Der Angriff auf die Demokratie kommt nicht nur aus Bombenwerkstätten, sondern aus Teilen des Staatsapparats selbst
Von Sebastian Carlens
Eng verquickt: Kader der NPD, des »Thüringer Heimatschutzes« und Sympathisanten demonstrieren 1998 in Saalfeld gegen Antifaschisten
Foto: Version
In der Mitte der neunziger Jahre erreichte die militante rechte Szene in Thüringen eine Stärke, die sie zur Bildung und zum Unterhalt eines bewaffneten, illegalen Zweigs befähigte. Die Nazis haben zwar noch nicht die Parlamente, wohl aber die Straßen erobert: Auch in Jena gibt es Gebiete, in denen sich junge Menschen, die nicht dem Stil der Faschisten entsprechen, nicht mehr sicher aufhalten können. Die Jungnazis dominieren die Jugendclubs in den Vororten, rotten sich des Nachts in der Innenstadt zusammen und verbreiten Angst und Schrecken. Mit dem Selbstbewußtsein steigen die Ansprüche: Aus Teilen der »Jugendkultur« erwächst eine politische Bewegung. Sympathisanten werden im »Thüringer Heimatschutz« organisiert; ein kleiner, harter Kern sammelt sich in der »Kameradschaft Jena«. Die hat höchstens acht Mitglieder, drei davon tauchen am 5. Februar 1998 in den Untergrund ab, um einem wenige Tage zuvor ausgestellten Haftbefehl zu entgehen. Sie wurden beim Bau von Bomben ertappt, Attrappen waren bereits in der Universitätsstadt deponiert worden. In einer Garage wurden fünf scharfe Rohrbomben, 1,5 Kilogramm TNT und weitere Waffen gefunden. Gegen Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe, die Mieterin der Garage, werden Ermittlungen aufgenommen. Zu einem Zugriff der Polizei kann es jedoch nicht mehr kommen, die drei jungen Nazis sind bereits untergetaucht – sie waren gewarnt worden"http://www.jungewelt.de/2011/11-25/015.php
RE: Braunes" Gedankengut" in Deutschland
in Gesellschaft 26.11.2011 08:40von Lisadill • 744 Beiträge
Ein Brief an Harald Welzer
Sehr geehrter Herr Welzer,
ich habe mit großem Interesse Ihr Buch «Die Täter» (Les Executeur) in französischer Sprache gelesen, habe darin viele interessante Analysen gefunden, die das ergänzt oder korrigiert haben, was ich von Browning und Goldhagen schon wusste.
Aber in einem grundsätzlichen Punkt teile ich Ihre Sichtweise nicht. Ich bin sogar sehr erstaunt, dass Sie, als Leser von Alice Millers «Am Anfang war Erziehung», das auch in einer Fußnote erwähnt wird, sich überhaupt nicht auf das bezogen haben, was sie geschrieben und bewiesen hat.
In der Tat schildert sie in ihrem Buch, wie Deutschland um die Wende des zwanzigsten Jahrhunderts allgemein unter dem Joch einer autoritären und repressiven Erziehungsweise lebte. Fast überall in Europa und in der Welt war es üblich, die Kinder zu schlagen, aber Alice Miller weist darauf hin, dass in den deutschen Erziehungsmethoden Gewalt und Disziplin einen besonderen Platz einnahmen. Deswegen ist es verwunderlich, dass Sie es außer Betracht gelassen haben.
Sie benützen sehr oft – und das schon im Untertitel Ihres Buches – den Ausdruck «normale» oder «ganz normale Menschen», und Sie bemühen sich zu beweisen, dass diese Menschen zu Massenmördern werden können, wenn die Umstände es erlauben.
Aber kann man Menschen als «normal» bezeichnen, die als Kinder Grausamkeiten von ihren Eltern und Erziehern erleiden mussten und sie nicht in Frage gestellt haben? Natürlich sind sie insofern normal als sie den Normen der Erziehung ihrer Zeit entsprechen, aber sind sie es im Vergleich mit Kindern, denen man mit Achtung begegnet ist? Würden Sie solche Tiere als normal betrachten – zum Beispiel Hunde oder Pferde – wenn es wie durch ein Wunder möglich geworden wäre, dass ihre Eltern sie mit der selben Gewalt behandelt hätten, die die meisten deutschen Kinder in der Vornazizeit erlebt haben? Und das ihre ganze Kindheit und Jugendzeit lang, und manchmal auch nachdem sie mündig geworden sind? Würde man da nicht sagen, dass diese Tiere erkrankt seien und dass sie sich abnormal verhielten?
Heutzutage sind die Auswirkungen der erzieherischen Gewalt besser bekannt. Man weiß von ihrer Vielfältigkeit, und auch davon, dass die Schläge, die die Eltern in der Zeit der Ausformung des Gehirns austeilen, sich in seine tiefsten Schichten einprägen und auf die angeborenen Verhaltensweisen des Kindes auswirken.
Zum Vereinfachen könnte man die Individuen mit Fahrzeugen vergleichen und behaupten, dass diese Erziehung ihre Motorstärke erhöht, die Effizienz ihrer Bremsen mindert und ihre Lenkung ungenau macht.
Diese Erziehung vermehrt das Gewaltpotential der Kinder, indem sie ihnen von früh an Verhaltensmuster anbietet, die von kalter oder zorniger Gewalt geprägt sind. Da sie gezwungen sind, die Schläge ohne Reaktion hinzunehmen, staut sich in ihnen eine Wut an, die nun versuchen wird, sich an allen Sündenböcken auszulassen, die gerade zur Verfügung stehen.
Sie hat ihnen gezeigt, dass man wehrlosen Menschen sehr wohl Gewalt «zu ihrem Wohle» antun kann. Anders gesagt, sie hat ihnen gezeigt, dass es im Namen einer abstrakten Vorstellung des «Wohles» normal und günstig ist, Wehrlosen Gewalt anzutun.
Dazu beeinträchtigt diese Erziehung die Fähigkeit, mitzufühlen, die doch eines der wirksamsten Mittel darstellt, um die Gewalt zu bremsen. Um nicht allzu sehr zu leiden, oder sogar um zu überleben, müssen Kinder, die geschlagen werden, sich von ihren eigenen Gefühlen abschneiden. Aber indem sie sich gegen ihre eigenen Emotionen abhärten, härten sie sich auch gegen die Emotionen der Anderen ab, und daher kann es nicht wundernehmen, wenn sie später eines kaltblütigen Mordes fähig werden. Die Gewalt, unter der sie gelitten haben, hat zum Beispiel in ihnen auch das gründlichste und allgemeingültigste aller Prinzipien der Ethik zerstört: «Tue keinem anderen an, was du nicht wünscht, dass man es dir antut», denn die gewaltsamen Eltern haben ihnen das Gegenteil beigebracht. Diese Gewalt hat in ihnen den Urtrieb zum Schutz ihrer Jungen, ihrer Sprösslinge, zerstört, denn sie haben seit ihrer frühen Kindheit die Agressionen ihrer erwachsenen Eltern erleiden müssen. Ist es dann ein Wunder, wenn sie unter kriegerischen Umständen und mit Hilfe einer unterstützenden Ideologie des kaltblütigen Ermordens von Kindern fähig werden?
Schliesslich hat Alice Miller auch bewiesen, dass bei Kindern, die «zu ihrem Wohle» geschlagen werden, gerade der Sinn für das ethisch Richtige und die Fähigkeit, sich logisch zu orientieren, beschädigt werden, weil sie Gewalt mit etwas Gutem assoziieren und diesen Widerspruch auch akzeptieren. Kinder, bei denen die moralischen Kategorien und die Intelligenz dermaßen beeinträchtigt worden sind, können dann ohne aufzumucken oder gar mit Begeisterung den irrsinnigsten und empörendsten Reden zuhören, etwa denen von Hitler und seiner Gefolgschaft. Hinzu kommt, dass die seit der Kindheit angelernte Gewohnheit, gewaltsamen Anordnungen zu gehorchen, offensichtlich darauf vorbereitet, sich einer militärischen Disziplin und auch gewaltsamen Politikern zu unterwerfen, die die Erinnerung an die väterliche Disziplin und Persönlichkeit wachrufen.
Aus diesen Gründen glaube ich nicht, dass man behaupten kann, dass die Massenmörder «normale» Menschen waren, oder nur zwischen vielen Anführungszeichen! Auch in Ex-Jugoslawien, Ruanda und Kambodscha war die Erziehung von großer Gewalt geprägt.
Dass Sie Alice Millers Erkenntnisse außer Betracht gelassen haben, hat mich umso mehr überrascht, als Sie doch behaupten – wo Sie das Thema Selbstständigkeit anschneiden – dass »die Fähigkeit, autonom zu sein, die Erfahrung der affektiven Verbindung und des Glückes voraussetzt »! (ohne Kenntnis des dt.Textes vom Fr. übersetzt) .
Ist Ihnen die Untersuchung von Samuel und Pearl Oliner über die Erziehung von mehr als 400 «Gerechten unter den Völkern» bekannt, die eben eine bemerkenswerte Fähigkeit aufgewiesen haben, selbsttändig zu denken und zu handeln? In ihren Antworten treten folgende Punkte deutlich hervor: sie haben liebevolle Eltern gehabt, die ihnen die Nächstenliebe beigebracht haben (wahrscheinlich mehr durch ihr Beispiel als durch ihre Ermahnungen), die ihnen vertraut und eine nicht autoritäre und nicht repressive Erziehung vermittelt haben.
Wenn man Ihnen folgt, waren die Massenmörder «normale» Menschen, während die «Gerechten» eher außergewöhnliche, sich an der Grenze der Monstrosität zum Guten bewegende Persönlichkeiten waren. Müsste man jedoch nicht davon ausgehen, dass es sich bei ihnen um gewöhnliche, normale Kinder handelte, die in der Tat normale Erwachsene geworden sind, weil sie eine normale Erziehung erfahren haben, die auf ihre Persönlichkeit Rücksicht genommen hat?
Aber was es schwierig macht, die Folgen der gewaltsamen Erziehung zu berücksichtigen, ist die Tatsache, dass wir fast alle mehr oder weniger darunter gelitten haben, und dass es gerade eine ihrer ersten Auswirkungen ist, dass man sie als normal und günstig betrachtet.
Olivier Maurel, Autor des Buches «La Fessée», La Plage, 2005
RE: Braunes" Gedankengut" in Deutschland
in Gesellschaft 01.12.2011 08:00von Lisadill • 744 Beiträge
Mord unter Staatsaufsicht
Von Sebastian Carlens
Gab es einen dritten Mann? In diesem Wohnmobil starben am 4. November in Eisenach die Rechtsterroristen Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos. Möglicherweise wurden sie durch Distanzschüsse getötet
Foto: dapd
Haben Verfassungsschützer den Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter beobachtet? Diesen Verdacht legen Observationsprotokolle des US-Militärgeheimdienstes DIA vom 25. April 2007 nahe. Einem Bericht von stern.de vom Mittwoch zufolge observierte an diesem Tag eine Spezialeinheit des amerikanischen Militärgeheimdienstes zwei Personen, die in einer Heilbronner Bankfiliale 2,3 Millionen Euro einzahlten. Zwei Verfassungsschützer »aus Baden-Württemberg oder Bayern« sollen laut US-Bericht an dem Einsatz beteiligt gewesen sein. Nach Verlassen der Bank seien die beiden observierten Personen zur Heilbronner Theresienwiese gefahren.
Dort habe die Operation allerdings abgebrochen werden müssen: Das US-Dokument berichtet von einer »Schießerei«, in die ein Zivilfahnder aus Baden-Württemberg (»BW Ops Officer«) mit einem rechtsradikalen Kommando (»right-wing operatives«) und einer regulären Polizeistreife vor Ort (»regular police patrol on the scene«) verwickelt waren. Bei einer der beiden observierten Personen soll es sich laut stern.de um Mevlüt K. handeln, der nach Erkenntnissen des Bundeskriminalamtes 2007 der islamistischen »Sauerland-Gruppe« 26 Bombenzünder beschafft hatte.
An der Heilbronner Theresienwiese starb an diesem Tag die 22jährige Polizistin Kiesewetter, ihr Kollege überlebte schwer verletzt. Die Tatwaffe, mit der die beiden Beamten angegriffen worden waren, fanden Ermittler am 4. November 2011 im Wohnmobil der mutmaßlichen Rechtsterroristen Mundlos und Böhnhardt. Bis zu diesem Zeitpunkt, also über viereinhalb Jahre nach dem Mord, wollen deutsche Ermittler nicht gewußt haben, wo sie die Täter zu verorten haben. Die Verfassungsschützer wußten es, den US-Angaben zufolge, allerdings schon unmittelbar nach der Tat.
Unter den bisher festgenommenen Mitgliedern und Unterstützern der NSU-Zelle seien keine V-Leute, teilte der Vorsitzende des Parlamentarischen Kontrollgremiums des Bundestages (PKG), Thomas Oppermann, am Mittwoch nach einer Sitzung des Geheimdienst-Ausschusses des Bundestages mit.
Gestern ab 16 Uhr trat der Innenausschuß des Bundestages in geheimer Sitzung zusammen. Ergebnisse der Sitzung lagen bis Redaktionsschluß noch nicht vor. Aus gut unterrichteten Kreisen war allerdings zu hören, daß während der Sitzung neue Erkenntnisse zum Tod von Mundlos und Böhnhardt präsentiert worden sein könnten. Es sollen Hinweise vorliegen, daß es sich »nicht um aufgesetzte Schüsse« gehandelt habe. Wenn beide Terroristen durch Distanzschüsse im Wohnmobil zu Tode kamen, wäre eine dritte Person dafür verantwortlich. Fremdeinwirkung war bisher offiziell stets bestritten worden.
Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) sieht indes größere Chancen für ein NPD-Verbot, wenn Kontakte der neofaschistischen Partei zu der Zwickauer Terrorzelle belegt werden könnten. Dies wäre »ein wichtiges Argument« in einem möglichen Verbotsverfahren, sagte der Minister am Mittwoch in Berlin. Angesichts der sich täglich überschlagenden Erkenntnisse über die Rolle staatlicher Organe beim Abtauchen und beim Mordfeldzug der Terrorzelle ist die Debatte um ein NPD-Verbot, so sehr es auch zu begrüßen wäre, nur noch ein Ablenkungsmanöver: Zur Bedrohung wurden Neofaschisten in der BRD erst dank der Protektion durch staatliche Stellen. Es sind die Hintermänner, Helfer und Vertuscher im Staatsapparat, ohne die weder NPD noch NSU hätten gefährlich werden können. Eine dringend nötige Aufklärung der Rolle staatlicher Organe wird jedoch verschleppt und in geheime Gremien abgeschoben.
www.jungewelt.de
RE: Braunes" Gedankengut" in Deutschland
in Gesellschaft 02.12.2011 11:53von Jonas • 615 Beiträge
Götz Aly (Autor von "Vordenker der Vernichtung" und "Hitlers Volksstaat, Raub Rassenkrieg und nationaler Sozialismus") im Interview über Breivik:
http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/thema/1514488/
RE: Braunes" Gedankengut" in Deutschland
in Gesellschaft 02.12.2011 18:28von Lisadill • 744 Beiträge
Aly: Wenn wir sagen, so ein Massenmörder, der aus politischen Motiven handelt, die ganz klar erkennbar sind, ist ein Wahnsinniger, dann machen wir es uns zu leicht. Wir gehen auf Distanz, sagen, der Mann ist krank, er hat mit uns nichts zu tun - und die Wirklichkeit, vor allem die geschichtliche Wirklichkeit ist meiner Ansicht nach ganz anders: Wir haben solche Menschen, solche Exemplare, zumal in Deutschland, im 20. Jahrhundert zu Hunderttausenden hervorgebracht. "
ja hervorgebracht,das ist eine gute Formulierung,allerdings fragt er sich nciht wie das geschehen konnte. wie einer zu einem hermetischen denken kommt ..es kann ja wohl nicht sein das in der nazizeit lauter menschen mit defekten
Genen geboren wurden.von Brevniks Kindheit erfaehrt man fast ncihts,nur das der Vater, ein Diplomat, sich vom Sohn abgewandt hatte,und das recht aggressiv.
RE: Braunes" Gedankengut" in Deutschland
in Gesellschaft 03.12.2011 08:35von Lisadill • 744 Beiträge
auszug aus einem Gespraech mit sabine Schiffer zum Rassismus und den "Doenermorden"
Haben die Ermittler fahrlässig gehandelt, oder sind sie Opfer ihrer eigenen Vorurteile und ihres Rassimus geworden?
Genau das wäre jetzt zu untersuchen, wenn man den Nährboden für dieses Gedankengut austrocknen möchte. Statt dessen verlegt man sich auf Randdebatten und öffnet alte Schubladen wie NPD-Verbot oder Vorratsdatenspeicherung. Es geht aber um latenten bis offenen Rassismus, der nachgewiesenermaßen weit verbreitet ist und in Phasen starker Veränderungen und einer tiefen Wirtschaftskrise gepflegt wird, daher natürlich auch in Behörden zu vermuten ist. Dort sitzt die sogenannte Mitte der Gesellschaft. Also ran an die kritischen und vor allem selbstkritischen Fragen und die Bewußtseinsbildung. Denn Rassismus verhindert echte Aufklärung und ermöglicht weitere Morde, wie wir hier sehen konnten. Immerhin hieß die Sonderkommission nicht »Döner«, das wäre die Übernahme eines Schimpfwortes von Rassisten gewesen, die damit Türken meinen. Dieser Gebrauch von Nazisprache hat nichts damit zu tun, daß ein Dönerbudenbesitzer unter den Opfern war, sondern er ist eine unsägliche Diffamierung, die auch kritische Medien übernommen haben. Das ist mehr als peinlich. Paßt aber zu unseren allgemeinen Defiziten im Erkennen von Haßsprache, die mit entmenschlichender Herabwürdigung beginnt und mit offener Hetze endet.
Die Angehörigen der Opfer werfen den Ermittlungsbehörden vor, daß die Mörder wesentlich schneller gefaßt worden wären, wenn es sich bei den Opfern um Deutsche gehandelt hätte. Erheben Sie auch diesen Vorwurf?
Nein, das teile ich so nicht – denn es dürfte darauf ankommen, welche Deutschen Opfer von Gewalt werden. Den Opfern des Münchner Oktoberfests von 1980, des schlimmsten Terroranschlags in der jüngeren deutschen Geschichte, wurde bis heute jede Gerechtigkeit verwehrt. Der rechtsextreme Täter ist tot, aber seine Hinterleute laufen heute noch frei herum, weil man sich schnell auf die in diese Richtung übliche Einzeltäterthese verlegt hatte. Ein Journalist wie Ulrich Chaussy, der diese offizielle Erzählung in Frage stellte, blieb lange eine Ausnahme.
Eine ernsthafte Aufklärung dürfte auch nach den Enthüllungen um die Gladio-Strukturen der NATO und deren inszeniertem Terror nicht erfolgen – der übrigens immer linken Gruppen in die Schuhe geschoben wurde. Und eine ernsthafte Verfolgung des Mörders von Rudi Dutschke hat es auch nicht gegeben.
Meine persönliche Erfahrung ist aber z.B. die, daß Morddrohungen gegen mich nicht mit gleichem Nachdruck verfolgt werden wie andere. Hingegen wäre der Mord an Generalbundesanwalt Siegfried Buback 1977 sicher längst aufgeklärt, wenn da nicht auch die Dienste mitgemischt hätten – so wie es nicht zuletzt der Sohn Bubacks vermutet. Ich würde mir diese Einteilung in In- und Ausländer so pauschal nicht aufdrängen lassen – auch nicht als Betroffener. Aber es ist ein Fanal für den Rechtsstaat, wenn er Konformisten mehr Rechte gewährt als Nonkonformisten, die zur Demokratie oftmals mehr als jene beitragen.
Glauben Sie, daß es jetzt zu einem Umdenken bei Politik, Medien und Polizei im Hinblick auf Migranten kommt?
Nein, manche Politiker brauchen diese Themen, um von der eigenen Ohnmacht in der Wirtschaftskrise abzulenken. Vergessen wir nicht, daß Bundeskanzlerin Angela Merkel den Rechtsextremen das Gefühl gibt, ihre Haltung sei berechtigt, wenn sie Multikulti für gescheitert erklärt.
Die Zivilgesellschaft wird das in die Hand nehmen und sich tatsächlich für den Schutz unserer Verfassung engagieren müssen. Einen Teil der Polizei würde ich da dazu zählen, etwa die Vereinigung kritischer Polizisten.
In den Medien bräuchten wir dringend echte unabhängige Systeme, die die kritischen Köpfe stärken, die es gibt, anstatt sie unter Druck zu setzen oder gar auszubooten.
Zu welchem Schluß kommen Sie, wenn Sie die Aufarbeitung des neofaschistischen Terrors in Deutschland mit dem Vorgehen der Norweger beim Attentat von Anders Behring Breivik vergleichen?
Zum selben Schluß wie im Juli nach den Anschlägen in Oslo: Statt auf Nachdenklichkeit und Analyse zu setzen, prescht man hier mit vermeintlichen Lösungsvorschlägen voran, wozu natürlich Internetkontrolle und mehr Überwachung gehören sollen. Der Aktionismus deutet darauf hin, daß man sich nicht mit den kritischen Fragen auseinandersetzen will – nämlich mit dem eigenen Rassismus und eigenen anti-demokratischen und anti-menschenrechtlichen Positionen.
Wir brauchen Bewußtseinsprozesse und keine neuen Gesetze, weil die vorhandenen ja nicht einmal konsequent gegen die jetzt aufgedeckten Strukturen angewandt werden. Wir erinnern uns an die kühnen Behauptungen nach den Morden von Oslo, bei uns gebe es so etwas nicht, es sei nicht möglich. Das war völlig daneben und reicht im Grunde, um die besagten Politiker heute allesamt zum Rücktritt aufzufordern, inklusive der kompetentesten Ministerin, die wir je hatten: Kristina Schröder, die noch nicht einmal Rassismus definieren kann und ihre rechtsblinde Politik in Form von Gängelung antifaschistischer Bürgerinitiativen auslebt.
Bei allen guten Radiodebatten und Feuilletonbeiträgen, die wir zu Norwegen hatten, verlegte man sich tendenziell dennoch schnell auf das Anprangern von Bloggern und von Henryk M. Broder, anstatt einmal zu eruieren, inwiefern die eigenen Beiträge über Jahrzehnte hinweg Stimmungen verbreitet haben, die solche Untaten begünstigen. Das belegt z.B. meine Doktorarbeit, in der ich Printmedien von Zeit bis Spiegel analysiert habe. Der deutsche Trend ist, Rassismus an den Rand der Gesellschaft zu projizieren und ihn nicht als Problem aller zu erkennen. Er trifft alle, was man am Profil der über 180 Opfer rechtsextremer Gewalttaten der letzten 20 Jahre sehen kann: Neben sogenannten Ausländern gehören dazu auch behinderte und obdachlose Inländer.
Hat sich seit dem Attentat von Oslo in der Politik rechter Kulturkrieger in Deutschland – wie etwa der selbsternannten Bürgerbewegung »Pro Deutschland« – etwas geändert?
Nein, es herrscht weitestgehend Business as usual: Sogar nach den Enthüllungen um die Zwickauer Zelle gab es in bayerischen Lokalzeitungen Beiträge, in denen die Gefahr möglicher islamistischer Terroranschläge auf dem Nürnberger Christkindlmarkt erörtert wurde. Seit der Studie von Wolfgang Frindte und Nicole Haußäcker von der Uni in Jena wissen wir, daß derlei Darstellungen weniger Terrorangst erzeugen als antimuslimischen Rassismus befördern.
Obwohl die Statistiken das Gegenteil belegen, wird auch weiterhin auf eine nicht zu unterschätzende Gefährlichkeit islamistischen Terrors hingewiesen, während die rechtsextremen Strukturen nicht zu Anzeigen, Sicherheitsverwahrungen, verschärften Verhören geführt haben. Das werden wir weiterhin kritisch beobachten müssen. Nur durch Medienrecherche kam heraus, daß sowohl bei der sogenannten Sauerlandgruppe als auch bei der »Globalen Islamischen Medienfront«, deren Mitglieder im Frühjahr in München vor Gericht standen, die Kontaktleute zu den Geheimdiensten zwar eine führende Rolle gespielt hatten, aber schließlich nicht mit den anderen vor Gericht standen. Es sollen ja auch V-Leute mit dem Anschlag in Solingen auf das Haus der Familie Genc 1993 im Zusammenhang gestanden haben. Da sind noch viel Aufklärungsbedarf und Wachsamkeit durch die Medien erforderlich.
Internetseiten wie »politically incorrect« oder die unter anderem vom Spiegel-Autoren Henryk M. Broder betriebene »Achse des Guten«, auf der z.B. frühere DDR-Bürgerechtlerinnen wie Vera Lengsfeld und Freya Klier oder auch Ivo Bozic, Redakteur der in Teilen neurechten Wochenzeitung Jungle World, publizieren, befördern den antimuslimischen gesellschaftlichen Rassismus seit geraumer Zeit. Welchen Umgang empfehlen Sie?
Zunächst einmal ist Henryk M. Broder ja konsequenterweise zur Welt gewechselt, die mit Publizisten wie Springer-Chef Mathias Döpfner, mit Richard Herzinger, Leon de Winter, Alexander Ritzmann, Andrea Seibel, Walter Laqueur und vielen mehr ein beachtliches Aufgebot an antiislamischen Stimmen versammelt. Die Welt war neben den Blogs führend darin, nach Oslo zur alten »Aber der Islam ist doch …«-Verallgemeinerung zurückzukehren. Broder, von dem Bücher bezeichnenderweise von der Bundeszentrale für politische Bildung vertrieben werden, darf weiter das gleiche Gift versprühen und nicht nur auf seinem Blog, sondern sogar öffentlich-rechtlich. Aber nicht er ist das Phänomen, sondern die Rolle, die man ihm zubilligt, ja offensichtlich fördert – in Medien, Politik und Stiftungen. Wenn wir dieses Symptom einer tiefsitzenden chauvinistischen Menschenverachtung nicht als das erkennen, was es ist, dann zeugt das von fehlender Bewußtseins- und auch Herzensbildung in dieser Gesellschaft bzw. bei deren Entscheidungsträgern.
Erlauben Sie mir, in dem Kontext noch einmal an meine Fragen in diversen Interviews und Radio-Talks nach dem Oslo-Attentat zu erinnern: Warum werden die islamophoben Blogs nicht mit gleichem Nachdruck verfolgt wie andere Hetzseiten? Zumal man ja hier spätestens seit den Enthüllungen der DuMont-Medien etliche Akteure kennt?
Wer heute Medienkritik, Desinformationskampagnen, aber auch die Diskriminierung von Minderheiten öffentlich kritisiert wie Ihr Institut für Medienverantwortung, hat mit Verleumdungen, Diffamierungen und sogar Morddrohungen aus der Bloggerszene zu tun. Wie gehen Sie und Ihre Institutsmitarbeiter mit der zunehmenden Bedrohung um?
Ich darf vermutlich nicht erwarten, von einer Behörde informiert zu werden, wenn sie meinen Namen auf den gefundenen Listen finden würde. Die längst bekannten schwarzen Listen im Internet werden ja auch ignoriert. Allerdings hatten wir im Institut eine polizeiliche Beratung und haben dort entsprechende Sicherheitsmaßnahmen eingerichtet sowie die Nachbarn informiert.
Als wir mit der Arbeit begannen, hätte ich nicht gedacht, daß auch für uns selbst die von uns geförderte sogenannte Media-literacy von zentraler Bedeutung sein wird: Man muß sich durch viel Müll lesen, um zur Wahrheit vorzudringen. Ohne einen Blick in die Primärtexte geht das heute gar nicht mehr, schon weil die Seriosität der Wiedergabe bei anonymen Bloggern, Verfassungsschutzmitarbeitern oder Möchtegerndoktoranden nicht garantiert ist. Wer also über mich oder unsere Arbeit urteilen will, muß sich schon die Mühe machen, unsere Veröffentlichungen dazu zu sichten. Dabei lernt man auch die Qualität der Diffamierer zu beurteilen.
Ich muß gestehen, daß ich Einladungen, im Ausland zu arbeiten, zunehmend attraktiv finde. Zwei meiner Kolleginnen haben sich solch eine Auszeit genommen. Außerdem habe ich keine Märtyrerambitionen, wohl aber das Gefühl, als Freiwild betrachtet zu werden.
Wie kann man Ihre Arbeit unterstützen?
Zunächst durch die Verbreitung unserer Arbeit und die Diskussion der Ergebnisse, durch Einladungen zu Vorträgen und Seminaren, indem man öffentlich gegen die Hetze Stellung nimmt, und natürlich sind wir für Finanzspritzen und Spenden dankbar. Es gäbe noch sehr viel zu tun, wie z.B. unsere Recherchen zur Manipulation der Medienwirkungsforschung belegen. Es gibt seit neuestem einen Förderkreis des Instituts, dem ab 2012 die Gemeinnützigkeit zugesagt wurde. Wer dort Mitglied wird, unterstützt über den Jahresbeitrag ebenfalls unsere Arbeit.
Buchveröffentlichung:
Sabine Schiffer/Constantin Wagner: Antisemitismus und Islamophobie – ein Vergleich. HWK Verlag, Wassertrüdingen 2009, 260 Seiten, 24,80 Euro
RE: Braunes" Gedankengut" in Deutschland
in Gesellschaft 05.12.2011 09:46von Lisadill • 744 Beiträge
Heißer Draht zum NSU
Von Claudia Wangerin
Während sich die Hinweise auf eine Geheimdiensttätigkeit der Neonaziterroristin Beate Zschäpe verdichten, wurde am Wochenende über einen geplatzten Deal zwischen der Staatsanwaltschaft Gera und der braunen Terrorzelle berichtet, den der Verfassungsschutz in deren Frühzeiten einfädeln wollte.
Nach Informationen der Süddeutschen Zeitung am Wochenende erhielt der Vater des toten Rechtsextremisten Uwe Mundlos bereits vor dem Abtauchen des »Zwickauer Terror-Trios« 1998 ein anonymes Schreiben, wonach Zschäpe als Informantin für staatliche Behörden arbeitete. Über diesen Brief gebe es einen Aktenvermerk, schrieb das Blatt unter Berufung auf Mitglieder des Thüringer Landtages. Das Justizministerium wollte dies weder bestätigen noch dementieren; der Vater von Mundlos ließ eine entsprechende Anfrage unbeantwortet.
Anfang letzter Woche hatte die Leipziger Volkszeitung bereits das Thüringer Landeskriminalamt als Quelle dafür genannt, daß die einzige Überlebende des als »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) bekannt gewordenen Trios für den Verfassungsschutz gearbeitet habe. Vertreter des Inlandsgeheimdienstes hatten dies vor dem Innenausschuß des Bundestages verneint. Nach den Worten des Ausschußvorsitzenden Wolfgang Bosbach (CDU) zog diese Antwort niemand in Zweifel.
Die NSU soll nach bisherigen Ermittlungen mindestens zehn Menschen erschossen und womöglich über 20 weitere durch zwei Sprengstoffanschläge in Köln verletzt haben. Nach der 2006 beendeten Mordserie an neun Männern türkischer und griechischer Herkunft in verschiedenen Bundesländern wurde 2007 die Polizistin Michéle Kiesewetter in Heilbronn getötet. Der Vorfall ereignete sich laut Observations protokoll des US-Militärgeheimdienstes DIA (Defence Intelligence Agency) sowohl vor dessen Augen als auch auch in Anwesenheit deutscher Verfassungsschützer, die Verdächtige im Zusammenhang mit der islamistischen »Sauerland-Zelle« beschatteten. (Siehe jW-Bericht vom 1.12.)
Darüber hinaus wird nun auch eine Verbindung der aus Jena stammenden Rechtsextremisten Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos zum Sprengstoffanschlag auf die Wehrmachtsausstellung in Saarbrücken 1999 geprüft.
Eine Aussage von Beate Zschäpe, die in Karlsruhe in Untersuchungshaft sitzt, zeichnet sich indes nicht ab. Ihr Verteidiger Wolfgang Stahl beklagte gegenüber dem Focus, daß ihm nur unzureichend Akteneinsicht gewährt worden sei: »Wir haben bislang nur 120 Seiten erhalten, das ist so gut wie nichts«, zitierte das Magazin den Anwalt am Samstag.
Laut Focus-Bericht soll zudem der Thüringer Verfassungsschutz im März 1999 versucht haben, Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos mit einem »Ausstiegsangebot« aus dem Untergrund zu holen. Nach den Worten von Böhnhardts früherem Rechtsanwalt Gerd Thaut sei damals ein Mitarbeiter des Verfassungsschutzes in seiner Kanzlei erschienen, angeblich im Auftrag seines Chefs Helmut Roewer. Der Mann habe erklärt, er wolle den untergetauchten Bombenbauern in die Legalität zurückhelfen. Falls sie sich freiwillig stellten, würden sie nicht wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung belangt, sondern nur wegen Sprengstoffbesitzes. Thaut habe das Angebot Böhnhardts Mutter übermittelt. Der Deal scheiterte demnach am Veto des damaligen Oberstaatsanwalts von Gera, Arndt Peter Koeppen, der versichert habe, das Trio werde bald gefaßt.
RE: Braunes" Gedankengut" in Deutschland
in Gesellschaft 05.12.2011 20:44von Lisadill • 744 Beiträge
Entfremdung durch Rassismus
Vor 50 Jahren starb der Revolutionär und Psychiatriereformer Frantz Fanon
Von Michael Zander
Aufbegehren der »Verdammten dieser Erde«: Demonstration gegen die französische Besatzungsmacht in Algerien (Algier, 10. Dezember 1960)
Foto: AP
Wie in etlichen anderen Städten auch, feiert man in Paris am 8. Mai 1945 die Kapitula tion Nazideutschlands und das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa. Unter den anwesenden Soldaten des Freien Frankreich findet sich auch ein junger Korporal, noch keine 20 Jahre alt, der aus einer Kolonie stammt, nämlich von der Karibikinsel Martinique. Er hatte sich freiwillig gemeldet und unter anderem an der Schlacht ums Elsaß teilgenommen, um im Namen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit gegen den Faschismus zu kämpfen. Bei der Siegesfeier tanzen die Pariserinnen vorwiegend mit den weißen Soldaten, ihre schwarzen Mitkämpfer bleiben meist im Abseits. Dies komplettiert die enttäuschenden Erfahrungen, die Frantz Fanon, so heißt der junge Mann, in der Armee machen mußte. Als Antillaner ist er dort zwar »Europäern« gleichgestellt, aber seine Kameraden zum Beispiel aus dem afrikanischen Senegal müssen in den schlechteren Baracken hausen und werden zuweilen auch mit Fußtritten traktiert.
»Ich habe mich geirrt!« schreibt er noch im Krieg an seine Eltern. »Nichts hier, nichts rechtfertigt diese plötzliche Entscheidung, mich zum Verteidiger der Interessen des Hausherrn zu machen, wenn er selbst darauf pfeift.« Allerdings ist das nicht sein letztes Wort, vielmehr fügt er paradoxerweise hinzu: »Morgen gehe ich als Freiwilliger auf eine gefährliche Mission …«
Während man in Paris das Kriegsende feiert, finden im rund 1400 Kilometer entfernten Algerien Demonstrationen statt. Der gemeinsame Feind, der Faschismus, ist geschlagen. Tausende vorwiegend arabische Bürger berufen sich nun auf das von den Alliierten 1941 proklamierte Selbstbestimmungsrecht der Nationen und fordern die Unabhängigkeit ihres Landes von der Kolonialmacht Frankreich. Nach Polizeiübergriffen kommt es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Bei Ausschreitungen kommen 102 Europäer ums Leben. Unter den Algeriern verüben Polizei und Armee in Sétif, Guelma, Melbou und Kherrata ein Massaker, bei dem 15000 bis 45000 Menschen ermordet werden.
Die Ereignisse des 8. Mai 1945 werden Fanons Leben und Werk prägen, in deren Mittelpunkt die Analyse von Rassismus und Kolonialismus sowie die Unterstützung der Befreiungsbewegungen stehen.
»Negrophobie«
Nach seiner Entlassung aus der Armee kehrt Fanon zunächst nach Martinique zurück und unterstützt den Wahlkampf seines Lehrers, des Schriftstellers Aimé Césaire (1913–2008), der als Kandidat der Kommunistischen Partei Frankreichs erfolgreich an den Wahlen zur Nationalversammlung teilnimmt. Bald darauf geht er nach Lyon, um dort Medizin mit Spezialisierung auf Psychiatrie zu studieren. Er besucht Vorlesungen des Philosophen Maurice Merleau-Ponty (1908–1961) und liest neben dem Studium Hegel, Marx’ Frühschriften, Freud, Lenin und Trotzki. Aus den Streitigkeiten unter seinen antillanischen Freunden, die teils der KP, teils dem Trotzkismus anhängen, hält er sich jedoch heraus.
1952, im Alter von 27 Jahren, veröffentlicht er sein erstes Buch. »Essay über die Entfremdung des Schwarzen«, sollte es zunächst heißen, aber auf Anraten des Verlags ändert er den Titel in »Schwarze Haut, weiße Masken«. Der Text ist vielgestaltig; er wechselt von Ironie und Sarkasmus zu sezierender Analyse, von Polemik zu kühler Sachlichkeit, von biographischen Erzählungen und assoziativen Spekulationen zu akademischer Argumentation und klinischen Berichten aus der Psychiatrie. Aber gerade aufgrund dieser Vielgestaltigkeit brennt sich der Eindruck der Lektüre ins Gedächtnis. Fanon untersucht nicht nur die »Entfremdung des Schwarzen« angesichts des Rassismus in Frankreich, sondern auch die Feindseligkeit vieler »Weißer«. Seine persönliche, aber verallgemeinerbare Erfahrung beschreibt er im Kontrast zu seiner Kindheit und Jugend in Martinique: »Ich bin ein Neger, aber natürlich weiß ich das nicht (…). Zu Hause singt meine Mutter mir französische Lieder in französischer Sprache vor, in denen nie von Negern die Rede ist. Wenn ich ungehorsam bin, wenn ich zuviel Lärm mache, sagt man mir, ich solle nicht ›den Neger spielen‹.«
An anderer Stelle heißt es: »Als Schüler haben wir stundenlang über die angeblichen Sitten der senegalesischen Wilden diskutiert. Es lag in unseren Worten eine zumindest paradoxe Ahnungslosigkeit. Der Neger lebt in Afrika. Subjektiv, intellektuell verhält sich der Antillaner wie ein Weißer. Er ist aber ein Neger. Das merkt er, sobald er in Europa ist, und wenn über Neger gesprochen wird, weiß er, daß sowohl von ihm wie vom Senegalesen die Rede ist.« Hinter der Kategorie des »Negers« verschwinden Geschichte, Nationalität, Beruf und Persönlichkeit.
Natürlich ist der Rassismus kein nur französisches Phänomen, und nicht nur Schwarze sind von ihm betroffen: »In Amerika werden Neger abgesondert«, schreibt er. »In Südamerika peitscht man die streikenden Neger auf den Straßen aus und erschießt sie. (…) Und hier, ganz in meiner Nähe, gleich nebenan, sagt mir ein aus Algerien gebürtiger Kommilitone: ›Solange man den Araber zu einem Menschen erklärt wie wir, wird es keine Lösung geben.‹«
Die Ablehnung durch Weiße entlarvt Fanon als eine Mischung aus Angst und Aggression, als »Negrophobie«. In einer nach Rassen aufgeteilten Vorstellungswelt verbinden sich mit dem »Neger« Ängste vor Primitivität, Hemmungslosigkeit, Sexualität und Natürlichkeit. Dabei werden nach psychoanalytischer Lesart die eigenen verdrängten Wünsche den Fremden und Außenseitern zugeschoben. »Wirklich, alles geht schief«, parodiert Fanon den Rassismus, die »Regierung und die Verwaltung werden von Juden belagert. Unsere Frauen von Negern.«
Das Buch erregt Aufsehen und zieht scharfe Kritik von rechts und links auf sich. Die Rechten meinen, wie Fanons Biographin Alice Cherki notiert, der Autor hänge den Weißen seine privaten Probleme an und solle lieber eine Therapie machen. Der linke Schriftsteller Léonard Sainville aus Martinique hält ihm vor, er wende sich von jenen Arbeitern ab, die den Rassismus bereits überwunden hätten und die eine andere Gesellschaft anstrebten.
Koloniale Psychiatrie
Fanon zieht im Text übrigens eine interessante Parallele zwischen der Art, wie man in Frankreich gemeinhin den Schwarzen begegnet, und der stationären Behandlung psychisch Kranker, die er in seinem Beruf bereits kennengelernt hat. Zunächst brandmarkt er das petit-nègre, die Kindersprache, in der schwarze und arabische Franzosen damals oft angeredet werden, etwa wenn ein Arzt sie fragt: »Was hast du? Wo tut’s weh? Wo es dir fehlen?« Und dann schreibt er überraschenderweise: »Wir selbst spüren zuweilen, wenn wir bestimmte Kranke befragen, in welchem Augenblick wir abgleiten. (…) Bei jener schwachsinnigen dreiundsiebzigjährigen Bäuerin, die sich mitten im Prozeß des Wahnsinns befindet, spüre ich plötzlich, wie die Antennen zerbrechen, mit denen ich berühre und von denen ich berührt werde. Die Tatsache, daß ich eine dem Irresein (…) angemessene Sprache spreche, daß ich mich dieser (…) Alten ›zuwende‹, mich über sie beuge, auf der Suche nach einer Diagnose – das ist für mich ein schlimmes Anzeichen für das Nachlassen meiner menschlichen Beziehungen.«
Er spielt hier auf Erfahrungen an, die er während seiner Facharztausbildung in einer Klinik im südfranzösischen Lozère gemacht hat. Der dortige Klinikleiter François Tosquelles (1912–1994) ist ein Marxist, der im Spanischen Bürgerkrieg Arzt auf der Seite der Republik war. Neben den damals gängigen rein somatischen Behandlungsverfahren praktiziert er eine »institutionelle Psychotherapie«, bei der Patienten und Personal nicht voneinander abgesondert werden, sondern vielmehr den Klinikalltag gemeinsam organisieren.
Nach dem Studium heiratet Fanon seine Freundin Marie-Josèphe Dublé und begibt sich auf Arbeitssuche. Er schreibt an den Dichter Léopold Sédar Senghor (1906–2001), den späteren ersten Präsidenten des unabhängigen Senegal, mit der Bitte, ihm eine Stelle in Dakar zu vermitteln. Aber der Brief bleibt unbeantwortet, und schließlich wird Fanon Leiter einer Psychiatrie im algerischen Blida, 45 Kilometer entfernt von der Hauptstadt Algier.
Offiziell ist Algerien damals ein französisches Departement; tatsächlich handelt es sich jedoch um eine Kolonie, ein seit über 100 Jahren besetztes Land, dessen Bevölkerung nach religiösen bzw. »rassischen« Gesichtspunkten gegliedert wird: Weniger als zehn Prozent sind christliche Europäer, meist Franzosen; die 140000 einheimischen Juden sind ihnen formal gleichgestellt, werden aber als Bürger zweiter Klasse behandelt und diskriminiert; 90 Prozent sind muslimische Araber. Letztere werden in allen gesellschaftlichen Bereichen benachteiligt, insbesondere beim Zugang zu Bildung, Arbeitsplätzen oder zur Politik. Sie dürfen zwar wählen, aber ein Gesetz sorgt dafür, daß sie im Land höchstens die Hälfte der Abgeordneten stellen dürfen. Außerdem sind Wahlfälschungen zu ihren Ungunsten üblich und ein offenes Geheimnis. Zu den wenigen Einrichtungen bzw. Organisationen, in denen Christen und Moslems gleichberechtigt zusammenarbeiten, gehören Gewerkschaften wie die kommunistische CGT.
Die koloniale Struktur spiegelt sich auch in der Psychiatrie wider. Die arabischen Patienten werden von den europäischen separiert; sie gelten als biologisch primitiv, ihre Versorgung ist schlecht, ihre Krankheiten werden ausschließlich auf körperliche Ursachen zurückgeführt. Fanon macht sich daran, die Klinik nach dem Vorbild der »institutionellen Psychotherapie« umzukrempeln. Personal und Patienten nehmen an gemeinsamen Gesprächsrunden teil, Feste werden gefeiert, Werkstätten gegründet.
Kontakt zur Befreiungsbewegung
Analytiker des Kolonialismus und der Gegengewalt der Unterdrückten: Frantz Fanon (1925–1961)
Foto: dpa
Auch außerhalb der Psychiatrie beginnen große Umwälzungen. Am 1. November 1954, neun Jahre nach dem Massaker von Sétif, beginnt der Aufstand der Nationalen Befreiungsfront FLN (Front de Libération Nationale) gegen die Kolonialmacht. Progressive Christen, Linkssozialisten und Trotzkisten schlagen sich früh auf die Seite der Unabhängigkeitsbewegung. Die KP dagegen hält zunächst an der »Einheitsfront« mit der Sozialdemokratie fest und unterstützt das Regime in Algier. Doch allmählich entwickelt sich auch hier eine Opposition, die den Kurs der Partei ändern wird, aber ihr Engagement zum Teil mit ihrer Freiheit und ihrem Leben bezahlt. So wird der Kommunist Fernand Yveton auf Anordnung des damaligen Justizministers Francois Mitterrand guillotiniert; Militärs foltern Maurice Audin zu Tode, einen jungen Mathematiker der Universität Algier; der Abgeordnete Henri Alleg wird verschleppt und an einem unbekannten Ort gefangen gehalten.
Die FLN nimmt Kontakt zu Fanon auf, weil sie einen Arzt sucht, der kriegsbedingte psychische Störungen oder auch körperliche Verletzungen bei den Aufständischen behandelt. Bald werden die klandestinen Aktivitäten im Krankenhaus ausgeweitet und Menschen, Waffen und Flugblätter versteckt. Der Krieg wird von der Kolonialmacht mit unglaublicher Härte geführt. Bis 1962 werden 600000 bis eine Million Algerier getötet, zwei Millionen Bürger zwangsumgesiedelt; auf französischer Seite sterben nach offiziellen Angaben 27000 Soldaten und 3000 Zivilisten.
Möglicherweise auf Veranlassung der FLN und um einer Verhaftung zuvorzukommen, tritt Fanon Anfang 1957 von seinem Posten zurück und wird von den Behörden des Landes verwiesen. Er geht nach Tunis und wird Redakteur der FLN-Zeitschrift El Moudjahid. In seinem Buch »Aspekte der Algerischen Revolution« (»L’An V de la révolution algérienne«) beschreibt er, wie sich das gesellschaftliche Gefüge des Landes im Krieg verändert. Unter anderem äußert er sich, mit einer Mischung aus Apologetik und Realismus, zu Kriegsverbrechen, die der FLN vorgeworfen werden: »Nein, es ist nicht wahr, daß die Revolution ebensoweit gegangen sei wie der Kolonialismus. Doch wir rechtfertigen deshalb nicht die spontanen Reaktionen unserer Landsleute. (…) Die Leute, die uns kritisieren oder uns die Randerscheinungen der Revolution vorhalten, verkennen den grauenvollen Konflikt, in dem sich ein Funktionär befindet, welcher gegen einen Landsmann vorgehen muß, der sich schuldig gemacht hat, beispielsweise ohne Befehl einen Verräter oder, was schlimmer ist, eine Frau, gar ein Kind getötet hat. Dieser Mann, über den ohne geschriebenes Gesetz gerichtet werden muß – allein aufgrund des Bewußtseins, das jeder hat von dem, was getan werden und was verboten bleiben muß –, ist kein Neuling in der Kampfgruppe. Er hat Monate hindurch unbestreitbare Beweise von Selbstverleugnung, von Patriotismus, von Mut erbracht. Über ihn muß jedoch gerichtet werden. Der verantwortliche Funktionär (…) muß sich an die Richtlinien halten. Er muß der Ankläger sein, wenn die anderen Mitglieder der Einheit es nicht auf sich nehmen wollen, den Beschuldigten vor dem Revolutionsgericht anzuklagen. – Es ist nicht leicht, mit einem Minimum von Fällen des Versagens den Kampf eines hundertdreißig Jahre lang geknebelten Volkes zu führen, und zwar gegen einen so entschlossenen und so grausamen Feind wie den französischen Kolonialismus.«
In der Zivilbevölkerung werden traditionelle Kleidungsstücke wie Schleier oder Fez zum Symbol der Weigerung, sich an die europäische Kultur anzupassen. Die Kolonialverwaltung entdeckt, wie Fanon vermerkt, das Thema der Frauenemanzipation und instrumentalisiert es zur Aufrechterhaltung ihrer Hegemonie. »Die Besatzungsmacht möchte die gedemütigte, beiseite gedrängte, eingeschlossene Frau verteidigen. Man beschreibt die unermeßlichen Möglichkeiten der Frau, die leider vom algerischen Mann in ein träges, entwürdigtes (…) Objekt verwandelt worden ist. Das Verhalten des Algeriers wird als mittelalterlich und barbarisch denunziert. Mit unendlicher Akribie wird die Anklage vorbereitet. (…) Gesellschaften (…) für die Solidarität mit den algerischen Frauen werden gegründet. (…) Man (…) sorgt sich um die Unglücklichen, die dazu verdammt sind, ›Kinder in die Welt zu setzen‹. Dabei tauchen häufig rassistische Argumentationen auf. ›Vertreiben Sie das Naturell, es kommt im Galopp zurück.‹«
Fanon redet keineswegs pauschal der Tradi tion das Wort; doch der angebliche Humanismus Frankreichs ist gründlich diskreditiert. Emanzipationspotential sieht Fanon dagegen in der zunehmenden Teilnahme der Frauen am Aufstand, auch wenn diese Teilnahme gegen vielerlei Schwierigkeiten durchgesetzt werden muß. »Man sieht, daß das algerische Mädchen, an alphabetisch, verschleiert, in der Entwicklung zurückgehalten, wie Algerien insgesamt durch die Kolonialherrschaft, schlecht darauf vorbereitet ist, revolutionäre Aufgaben zu übernehmen. Das algerische Mädchen schämt sich seines Körpers, seiner Brüste, seiner Menstruation; es schämt sich, eine Frau zu sein. Die Tochter schämt sich, im Beisein des Vaters zu sprechen, den Vater anzuschauen. Und ihr Vater schämt sich vor ihr, da er tatsächlich in seiner Tochter die Frau sieht.« Zahlreiche junge Frauen entfliehen den beengenden häuslichen Verhältnissen und schließen sich dem Aufstand an. Sie heiraten auf den Standesämtern der FLN oder lassen sich scheiden. Im Zuge verdeckter Aufträge, die sie inkognito in die Städte führen, entwickeln sie ein funktionales Verhältnis zum Schleier, den sie bei Bedarf tragen oder ablegen. Fanon hofft, daß damit die Grundlagen für erneuerte Geschlechterverhältnisse gelegt werden.
In Tunis wird Fanon Zeuge heftiger Frak tionskämpfe in der FLN. Wegen seiner eigenen Positionen beschuldigt man ihn sogar, ein »zionistischer Agent« zu sein. Der französische Geheimdienst streut Falschinformationen, aufgrund derer zahlreiche Kader als Verräter verurteilt und getötet werden. Der Unabhängigkeitskampf nähert sich dem Ende und macht Fragen nach der politischen Zukunft Algeriens unabweisbar.
Die »dritte Welt«
Unter manchen heutigen europäischen Linken haben die Befreiungsbewegungen einen schlechten Ruf, weil die Nation im Zentrum ihrer Programme steht. Aber zumindest im Fall der FLN ist dieser Programmpunkt gleichbedeutend mit einer demokratischen und republikanischen Orien tierung; denn die Auflehnung gegen die koloniale Verneinung einer eigenständigen Nation beinhaltet zugleich ein Angebot an alle Einwohner des Landes, die algerische Staatsbürgerschaft anzunehmen und gleiche Rechte zu genießen, unabhängig von ethnischer, religiöser oder familiärer Zugehörigkeit. Diese Einladung verdankt sich nicht nur grundsätzlichen politischen Überzeugungen, sondern auch einem wohlverstandenen Eigeninteresse; die FLN möchte die gut ausgebildeten europäischen Spezialisten der ohnehin spärlichen Industrie im Land halten.
Fanon wird die offizielle Unabhängigkeit Algeriens nicht mehr erleben. Unerwartet erkrankt er an Leukämie und stirbt im Alter von nur 36 Jahren am 6. Dezember 1961 in einem Krankenhaus in den USA. Aber wenige Tage vor seinem Tod erscheint ein Buch, das ihn weltberühmt machen wird und das eine Zeile der Internationalen im Titel führt – »Die Verdammten dieser Erde«. Im Mittelpunkt steht der Begriff der »Tiers-Monde«, der »dritten Welt«, den Albert Sauvy und Georges Balandier geprägt haben, in Analogie zum Dritten Stand in der Französischen Revolution.
Fanon erinnert daran, was die Kolonialmächte diesem Dritten Stand schuldig sind. »Der Reichtum der imperialistischen Länder ist auch unser Reichtum. Europa hat sich an dem Gold und den Rohstoffen der Kolonialländer unmäßig bereichert: aus Lateinamerika, China und Afrika (…), denen Europa heute seinen Überfluß vor die Nase setzt, werden seit Jahrhunderten Gold und Erdöl, Seide und Baumwolle, Holz und exotische Produkte nach eben diesem Europa verfrachtet. (…) Die Häfen von Holland, die Docks von Bordeaux und Liverpool (…) verdanken ihren Ruf Millionen deportierter Neger. Und wenn wir ein europäisches Staatsoberhaupt (…) erklären hören, daß man den unglücklichen unterentwickelten Völkern zu Hilfe kommen müsse, so erzittern wir nicht vor Dankbarkeit. Ganz im Gegenteil, wir sagen uns: das ist eine gerechte Repa ration …«
Bekanntlich hat man Fanon vorgeworfen, er verherrliche die Gewalt; herangezogen werden Sätze wie diese: »Auf der individuellen Ebene wirkt Gewalt entgiftend. Sie befreit den Kolonisierten von seinem Minderwertigkeitskomplex (…). Sie macht ihn furchtlos, rehabilitiert ihn in seinen eigenen Augen.« Unabhängig davon, ob das stimmt, predigt Fanon die Gewalt nicht, er setzt sie als Tatsache der kolonialen Situa tion voraus. In seinen therapeutischen Berichten aus Blida zeigt sich die Zerstörungskraft der Gewalt. Polizisten beklagen sich über die mühsame Arbeit des Folterns. Einer sagt Fanon über seine Opfer: »Manchmal (…) möchte man ihnen sagen, daß sie, wenn sie etwas Mitleid hätten, sprechen würden, ohne uns zu zwingen (…), ihnen die Informationen Wort für Wort aus der Nase zu ziehen. (…) Da ist man dann gezwungen, sie sich vorzunehmen.« Über einen anderen schreibt Fanon, er habe ihn gebeten, »ihm zu helfen, daß er die algerischen Freiheitskämpfer ohne Gewissensbisse, ohne Verhaltensstörungen, sozusagen mit Gelassenheit foltern könne.« Ein FLN-Angehöriger gesteht in der Therapie ein Verbrechen, das keineswegs kathartisch gewirkt, sondern regelmäßiges Erbrechen, Alpträume und psychotische Episoden ausgelöst hat: »Ich erfuhr, daß meine Mutter von einem französischen Soldaten (…) getötet wurde (…). Eines Tages sind wir auf eine Kolonialbesitzung gegangen, wo der Verwalter (…) schon zwei algerische Zivilisten erschlagen hatte. (…) Aber er war nicht da. Nur seine Frau war im Haus. (…) Aber ich betrachtete die Frau und dachte an meine Mutter. (…) Einen Augenblick später war sie tot. Ich hatte sie (…) getötet. (…) Und dann ist diese Frau jeden Abend gekommen, um mein Blut zu verlangen.« Eine Verherrlichung von Gewalt klingt anders.
Das Buch enthält auch ein Vermächtnis, das für die FLN unbequem ist; denn der Autor zeichnet darin, mit Blick auf andere, bereits unabhängig gewordene Länder, ein düsteres Zukunftsbild. Er fürchtet, die einheimische Bourgeoisie werde sich in der Verkleidung der nationalen Befreiung an die Stelle der Kolonisatoren setzen und die ökonomische Verflechtung mit dem »Mutterland« aufrechterhalten; mittels einer Einheitspartei werde sie eine bürgerliche Diktatur errichten.
Abstand und Aktualität
Zwar werden sich diese Befürchtungen als übertrieben erweisen, aber sie enthalten dennoch einen wahren Kern. Die Ökonomie des unabhängigen Landes ist, wie Bernhard Schmid in seinem Buch über Algerien schreibt, mit schweren Hypotheken belastet, etwa mit dem fortdauernden Einfluß französischer Konzerne auf die Ölförderung. Neben der Auswanderung europäischer Fachkräfte gehören dazu die ökonomische Ausrichtung auf Frankreich und die Kriegsschäden. Die bedeutendsten politischen Parteien sind sozialistisch orientiert, doch die FLN ist nicht zur Machtteilung bereit und verbietet ihre Konkurrenten. Der algerische Sozialismus entwickelt sich zu einer »gemischten« Wirtschaft, wobei sich manche FLN-Kader bei der Nationalisierung bereichern. Die Bodenreform wird teilweise sabotiert, so daß großer Grundbesitz in der Hand einflußreicher Familien bleibt. Und doch genießt die Regierung lange einen großen Rückhalt in der Bevölkerung. Sie industrialisiert das Land und hebt zeitweise das Niveau der verfügbaren Massenkonsumgüter. Doch nach der Auflösung der verbündeten RGW-Staaten treten 1989 die inneren Widersprüche des algerischen Modells zutage. Am Vorabend von Militärputsch und Bürgerkrieg wird die »Islamische Rettungsfront« zur stärksten Partei, die als Alternative sowohl zum »Westen« als auch zur weitgehend säkularen FLN erscheint.
Liest man heute Fanons Texte, so merkt man historischen Abstand und Aktualität zugleich. Vorbei ist die Zeit der historischen Aufbruchstimmung und der Blockbildung zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Andererseits führen die Regierungen Europas und der USA noch immer die »westlichen Werte« im Mund, die bereits Fanon vor einem halben Jahrhundert seziert hat. Auch ohne offenen Kolonialismus bleiben alte ökonomische Abhängigkeiten bestehen. Und wie damals werden unter Mißachtung des Völkerrechts Regierungen gestürzt, und es wird bedenkenlos militärische Gewalt eingesetzt, um, wie es der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler ausgeplaudert hat, »freie Handelswege« zu erzwingen und »regionale Instabilitäten« zu verhindern.
Michael Zander ist Mitarbeiter am Institut für gerontologische Forschung in Berlin
RE: Braunes" Gedankengut" in Deutschland
in Gesellschaft 11.12.2011 22:21von Lisadill • 744 Beiträge
Wer zu uns kommt, soll Mehrwert bringen«
Vorabdruck: Sarrazin, die SPD und die Neue Rechte
Von Thomas Wagner / Michael Zander
* Die Debatte um Thilo Sarrazin hat 2010 und 2011 Theorien und Ideen, die zuvor hauptsächlich in neuen und alten rechten Kreisen von Junge Freiheit bis NPD kursierten, in der vermeintlichen »Mitte« der bürgerlichen Gesellschaft salonfähig gemacht. Im Berliner spotless Verlag erscheint nun unter dem Titel »Sarrazin, die SPD und die Neue Rechte. Untersuchung eines Syndroms« eine erste Bilanz. Die Autoren, Michael Zander und Thomas Wagner, analysieren nicht nur die Thesen des Autors von »Deutschland schafft sich ab«, sondern gehen auch den gesellschaftlichen Verhältnissen auf den Grund, durch die der »Fall Sarrazin« erst möglich wurde. jW veröffentlicht einen um Fußnoten gekürzten Auszug aus dem letzten Kapitel (»Die Neuformierung der Rechten«) des in diesen Tagen erscheinenden Buchs vorab.
Im Laufe des Jahres 2011 wurde die Debatte um Sarrazins Buch durch bedeutendere Themen wie die Verschärfung der internationalen Finanzkrise oder die arabischen Revolutionen aus den Medien verdrängt. Nach ihrem vorläufigen Ende kann man eine erste Bilanz ziehen.
Der außergewöhnliche Verkaufserfolg des Buchs war eine Überraschung, auch für den DVA-Verlag, der aufgrund der unerwartet vielen Bestellungen anfangs mit Lieferschwierigkeiten zu kämpfen hatte. Neu war nicht die politische Stoßrichtung des Pamphlets: Rechtspopulistische Äußerungen von Vertretern des politischen Establishments hatte es auch in den Jahren zuvor schon wiederholt gegeben. Mit Blick auf Erwerbslose sagte etwa der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) gegenüber der Bild (5.4.2001): »Es gibt kein Recht auf Faulheit in unserer Gesellschaft.« Schon als Kanzlerkandidat in spe hatte er über ausländische Bürger, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten, zu Protokoll gegeben: »Wer unser Gastrecht mißbraucht, für den gibt es nur eins: Raus, und zwar schnell.« (Bild am Sonntag, 20. 7. 1997) Schröders Arbeitsminister Wolfgang Clement (damals ebenfalls SPD) gab eine Broschüre seiner Behörde heraus, in der über Erwerbslose bzw. »Sozialbetrüger« zu lesen war: »Biologen verwenden für ›Organismen, die dauerhaft zur Befriedigung ihrer Nahrungsbedingungen (sic!) auf Kosten anderer Lebewesen – ihren Wirten – leben‹, übereinstimmend die Bezeichnung ›Parasiten‹. Natürlich ist es völlig unstatthaft, Begriffe aus dem Tierreich auf den Menschen zu übertragen. Schließlich ist Sozialbetrug nicht durch die Natur bestimmt, sondern vom Willen des einzelnen gesteuert.«
Auch von dem ehemaligen Berliner CDU-Fraktionsvorsitzenden Klaus-Rüdiger Landowsky sind abwertende Tiervergleiche überliefert: »In einer Debatte im Abgeordnetenhaus über den Berliner Haushalt, die Arbeitslosenzahlen und die Sicherheitspolitik rief Landowsky am 27. Februar 1997 aus: ›Wo Müll ist, sind Ratten, und wo Verwahrlosung herrscht, ist Gesindel. Das muß in der Stadt beseitigt werden.‹ Der Politiker meinte vor allem ›kriminellen Abschaum aus Rußland, Rumänien, Libanon und China‹, der nach Berlin gekommen sei«, berichtete der Tagesspiegel (11. 2. 2001). Die Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen.
Obwohl Sarrazin in dieser Reihe steht, gelang ihm doch etwas Neues. In seinem Buch vertritt er – wissentlich oder unwissentlich – einige zentrale Ideen und Ressentiments der Neuen Rechten und erreicht damit ein Millionenpublikum, darunter auch Mitglieder von Parteien und Gewerkschaften. Die Massenmedien räumten ihm übermäßig großen Platz ein und ließen sich dabei das Thema »Integration« vorgeben.
Zahlreiche prominente Fürsprecher sprangen ihm zur Seite. Sarrazin radikalisierte sogar noch die neurechten Doktrinen, indem er deren vorwiegend kulturalistisch argumentierenden Rassismus durch einen offenen und aggressiven Biologismus ergänzte. Dabei verfolgte er eine geschickte Strategie der Eskalation: Auf jede Beleidigung – etwa seine abwertenden Äußerungen über die »Kopftuchmädchen« – folgte zunächst eine Entschuldigung und später eine weitere Provokation. Zwar sorgte sein Biologismus zeitweise für Dissens im liberal-konservativen Lager, letztlich konnte er sich jedoch damit behaupten.
»Überzähligkeitsangst«
Wie konnte Sarrazin auf diese breite Zustimmung stoßen? Seine Anklagen gegen Muslime, Erwerbslose oder die »Unterschicht« sagen etwas über die gesellschaftlichen Verhältnisse aus, in denen sie gedeihen. Vor allem die unter den SPD-Grünen-Regierungen 1998–2005 durchgesetzte »Deregulierung der Arbeitsmärkte« hat zu einer beispiellosen Zerstörung gesellschaftlicher Solidarität geführt. Die massive Ausweitung des Niedriglohnsektors, der Abbau unbefristeter und sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungen, das Umsichgreifen der Leiharbeit, die Einführung von »Hartz IV«, die Polarisierung der Einkommen und Vermögen, all dies vergrößerte die Unsicherheit individueller Lebenslagen, es erzeugte »Überzähligkeitsangst« (Sartre) und stachelte Konkurrenz und Feindseligkeit an.
Diese Entwicklung betrifft vor allem Arbeiter und kleine Angestellte, aber auch Angehörige der Mittelschichten blieben nicht verschont. Auch sie müssen um den Erhalt ihrer beruflichen und so zialen Positionen kämpfen, die Karrierewege ihrer Töchter und Söhne sind unsicherer geworden, nicht zuletzt durch die Einführung von Bachelor- und exklusiven Masterstudiengängen an den Hochschulen.
Daß gerade Bürger muslimischen Glaubens zum Objekt politischer Aggressionen gemacht werden, deutet noch auf einen weiteren Gesichtspunkt hin: Seit 2001 führt die BRD Krieg in islamisch geprägten Ländern, sei es direkt durch den Einsatz der Armee, wie in Afghanistan, sei es indirekt als Teil militärischer Bündnisse, wie es im Hinblick auf den Irak der Fall ist. Es gibt etliche historische Beispiele dafür, wie im Fall von Krieg oder militärischen Bedrohungssituationen der »Feind« im Innern angegriffen wird. (…)
Konformismus als »Protest«
In dieser Lage erscheint Sarrazins Programm offenbar vielen als attraktiv. Wenn die gesellschaftlichen Verhältnisse als unveränderbar wahrgenommen werden, wenn die Gewerkschaften schwach sind und die Sozialdemokratie, statt ihre einstigen Stammwähler vor den schlimmsten Auswüchsen des Kapitalismus zu schützen, selber einer verschärften Ausbeutung den Weg ebnet, dann muß eine Alternative gefunden werden. Sarrazin präsentiert Muslime, Erwerbslose und die »Unterschicht« als Schuldige. Er lädt dazu ein, sich aggressiv nach unten und auch gegenüber potentiellen Konkurrenten, darunter nicht zuletzt »erfolgreiche Muslime«, abzugrenzen. Von den Beschuldigten geht aufgrund ihrer relativen Ohnmacht keine unmittelbare Gefahr aus; vielmehr läßt sich an den Staat appellieren, gegen sie vorzugehen.
Weil die Unterstützung des Rechtspopulismus eine, wenn auch autoritäre, Reaktion auf inhumane gesellschaftliche Bedingungen ist, kann dies die Vertreter von Gegenpositionen vor schwer zu lösende Probleme stellen. Der Politikwissenschaftler Thomas Lühr warnt – im Anschluß an den Soziologen Klaus Dörre – vor möglichen »Aufschaukelungseffekten«: »Wenn z.B. ›einheimische‹ Leiharbeiter ihre Konkurrenz gegenüber migrantischen Stammarbeitern vermittels rassistischer Klassifikationen verarbeiten und sie infolgedessen Repressionen erfahren, führt dies dazu, daß sie den Antirassismus des Betriebsrats und des Managements als Bestandteil eines Herrschaftssystems entschlüsseln (…). Infolgedessen wendet sich der Protest (…) gegen den Zwang zu einer ›Political Correctness‹.«
SPD, Grüne, FDP, CDU und Unternehmerverbände leisten genau dieser fatalen Dynamik Vorschub, wenn sie einer Deregulierung des Arbeitsmarkts das Wort reden, gleichzeitig aber deren häßliche Begleiterscheinung, den Rassismus, verurteilen.
Sarrazins politische Forderungen laufen fast in allen Bereichen auf gewalttätige staatliche Maßnahmen hinaus, die sich vor allem gegen Bürger am unteren Ende der gesellschaftlichen Hierarchie richten. Der »Hartz-IV«-Regelsatz etwa wird als »Mindestlohn« bezeichnet, Bezieher von Arbeitslosengeld II sollen im Rahmen von »Workfare« zu Arbeit gezwungen werden; gefordert werden ein stärker militarisiertes EU-Grenzregime und ein Ende der Zuwanderung in die BRD, ausgenommen »Spezialisten am obersten Ende der Qualifikationsskala« ; an den Schulen sollen autoritäre, vorwiegend auf »Disziplin« gegründete Erziehungsmethoden restauriert werden.
Wer sich in die gesellschaftlichen Hierarchien einordnet, fühlt sich durch alle provoziert, die das nicht tun. Zudem können all jene, die in »Deutschland schafft sich ab« diffamiert werden, durchaus Neid erwecken. »Unterschichten« und Migranten werden im Hinblick auf Sexual-, Ernährungs- und Freizeitverhalten als maßlos dargestellt, während die »Anständigen« sich mit Asketismus, Gehorsam und Arbeitseifer begnügen müssen. »Der Hilflose und ›Arme‹, um den sich Medien und Betreuer kümmern, wird um seine Mittelpunktstellung beneidet.« Die Empörung kann sich dabei auch fortschrittlich klingende Argumente zu eigen machen, indem sie für Religionskritik oder Frauenrechte eintritt.
Unwillkürlich muß man im Hinblick auf Sarrazins Unterstützer an die Metapher vom Radfahrer denken, der nach oben buckelt und nach unten tritt. Aber das Bild geht nicht ganz auf, denn der Rechtspopulismus greift Protestpotential auf, das auch nach oben boxt. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich allerdings, daß dieser Protest im Grunde harmlos ist. Kritisiert werden lediglich bestimmte Meinungen, die dem politischen Establishment zugeschrieben werden. Reale Machtpositionen oder gar Eigentumsverhältnisse bleiben davon unberührt.
Sarrazin bietet seinen Anhängern also eine Möglichkeit, ihren Unmut zum Ausdruck zu bringen, ohne das Risiko eines Konflikts mit Unternehmern und Politik einzugehen. Dieser Protest wird zwar autoritär und konformistisch mobilisiert, entzündet sich aber letztlich an Bedingungen, die von der politischen Linken und Teilen der Gewerkschaften kritisiert werden. An dieses Potential könnte auch eine demokratische Bewegung anknüpfen, sofern sie den Schein der Unveränderbarkeit kapitalistischer Verhältnisse durchbrechen will.
Brutales Nützlichkeitskalkül
Beifall von Rechtsaußen: Bei den Rassisten von Pro Deutschland kommen »Thilos Thesen« gut an (Wahlplakat in Berlin, 11. August 2011)
Das Buch »Deutschland schafft sich ab« machte programmatische Aussagen populär, die zuvor kaum Beachtung gefunden hatten, als sie von Autoren der Jungen Freiheit oder Sprechern der NPD vertreten worden waren. Abgesehen davon, daß der Bestsellerautor Bild und den Bertelsmann-Konzern auf seiner Seite hatte, verfügte er über mehrere persönliche Vorteile, die ihm in den Augen seiner Anhänger Glaubwürdigkeit und Ansehen verliehen haben dürften.
Öfter wurde kritisiert, er sei Teil jenes politischen Establishments, gegen das er so lautstark polemisiert. Aber für seine Unterstützer ist dies kein Widerspruch. Ihm wird als Seriosität und Pluspunkt ausgelegt, daß er finanziellen Erfolg hat und kein politischer Außenseiter ist. Bei Bedarf wechselt er von der Rolle des polemisierenden »Klartextredners« in die des vorgeblich neutralen Überbringers von schlechten Botschaften. »Ich habe in meiner stillen Kammer Zahlen zusammengestellt«, erklärt er in einer Talkshow (vgl. Die Welt, 28. 8. 2011). Im Unterschied zur NPD oder zum politischen Spektrum rechts von der Union wird er von großen Teilen seines Publikums nicht mit dem Neofaschismus in Verbindung gebracht. Als Mitglied der SPD kann er, so scheint es vielen, kein rechter Hasardeur sein.
Entscheidend ist Sarrazins Verankerung in der SPD. Seine Hausmacht in dieser Partei wird deutlich an der Unterstützung, die er erfährt, und zwar nicht nur an der Basis, sondern auch bei hochrangigen ehemaligen oder aktiven Mandatsträgern und Funktionären wie Klaus von Dohnanyi oder Helmut Schmidt. Gegenüber Bild (15. 11. 2010) äußerte der ehemalige Finanzminister Peer Steinbrück, man könne »weiten Teilen von Sarrazins Analysen kaum widersprechen«, auch wenn Sarrazin die Debatte mit »plattem Sozialdarwinismus« vergifte.
Er sei, so Steinbrück weiter, gegen einen Parteiausschluß des Exbundesbankers; zugleich spricht er sich indirekt für dessen Forderungen in der Migrationspolitik aus: »Wer zu uns kommt, soll uns mit seinen Qualifikationen einen Mehrwert bringen und keine Belastung sein. An solchen Kriterien sollten wir uns künftig auch ausrichten. Denn bei uns ist Zuwanderung bisher eher ein Belastungsfaktor für den Sozialstaat.«
Diese brutale Nützlichkeitskalkül steht freilich dem Rechtspopulismus in nichts nach. Der mittlerweile aus der SPD ausgetretene Wirtschaftsminister Wolfgang Clement meinte im Interview der Legal Tribune Online (6. 9. 2010), Sarrazin sei »dem politischen Führungspersonal der SPD sehr gut bekannt«. Und jeder, der ihn kenne, wisse, daß es verleumderisch sei, »ihn auch nur in die Nähe rassistischer Überlegungen oder gar Überzeugungen zu bringen«. Er habe ein »äußerst wichtiges Buch« geschrieben, in dem er »in äußerst eindringlicher Art und Weise auf die Gefahren der demographischen Entwicklung und der Desintegration in unserem Land« aufmerksam mache. »Seine Aussagen über die mangelnde Integration bestimmter Migrantengruppen (…) sind nicht nur unangreifbar. Sie sind sogar äußerst hilfreich.« Viele von Sarrazins Forderungen gehören bereits zum politischen Mainstream. Wer von hochrangigen (ehemaligen) SPD-Mitgliedern derartige Elogen empfängt, wird sich natürlich weder mit der NPD noch auf unsichere Parteigründungen einlassen. Er hätte politisch keinerlei Vorteil davon.
»Last« der Vergangenheit
Aufgrund der historischen Erfahrungen mit der Naziherrschaft sind einer praktischen Umsetzung diskriminierender und gewalttätiger Maßnahmen gegen Minderheiten oder dem Abbau demokratischer Rechte in Deutschland gewisse Grenzen gesetzt. Wenn in diesem Zusammenhang über »Tabus« und »politische Korrektheit« geklagt wird – der österreichische Rechtspopulist Jörg Haider sprach einst vom »Tugendterror« –, dann könnte dies ein Zeichen dafür sein, daß der Faschismus vor allem als verboten, nicht aber unbedingt als politisch falsch betrachtet wird.
Vielmehr stellt sich in diesem Blickwinkel die Verurteilung der Naziherrschaft als ein Hindernis für die Durchsetzung rechtspopulistischer Programme dar. Wo es so aussieht, als frönten andere Nationen ungeniert dem Autoritarismus, dem Chauvinismus und dem Militarismus, da erscheint die »deutsche Vergangenheit« als eine »Last«.
Sarrazin wurde in den Medien nicht als Deutschnationaler oder Geschichtsrevisionist bekannt. Anders als Erika Steinbach (CDU) behauptet er beispielsweise nicht, Polen habe den »ersten Schritt« in den Zweiten Weltkrieg getan, auch redet er nicht, wie es Martin Hohmann tat, von »den« Juden als »Tätervolk«.
Im Interview mit Lettre International und in seinem Buch gab er sich vielmehr betont »philosemitisch«, indem er seiner Hochschätzung der Juden als »Leistungsträger« Ausdruck verlieh. Sieht man allerdings genauer hin, dann erkennt man, daß auch er die Geschichte umdeutet und so die politischen Spielräume für den Rechtspopulismus zu vergrößern versucht. Seine Vorstellung von Juden als geschäftstüchtigen Intelligenzlern ähnelt verblüffend antisemitischen Stereotypen, auch wenn er sie mit positivem Vorzeichen versieht. In einem Atemzug mit den von den Nazis verfolgten Juden nennt er jene Bankiers und Industriellen als Leistungsträger, die an der Ausbeutung von Zwangsarbeit verdient haben.
Sein Buch enthält in bezug auf die Resultate des Zweiten Weltkriegs deutschtümelnde Passagen, etwa wenn die Führungsschichten für ihre »Effizienz beim Wiederaufbau« sowie »spezifisch deutsche Stärken« gelobt werden. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (25. 12. 2010) schrieb er, seiner Ansicht nach gebe es in Politik und Medien heute »weniger Zivilcourage und wirklich unabhängiges Denken als in der Weimarer Republik«. Welche politische Kraft der damaligen Zeit er dabei im Sinn hat, teilte er allerdings nicht mit; die KPD wird er nicht gemeint haben. Vor diesem Hintergrund erscheint es dann auch nicht mehr als harmlos, wenn er in einer Talkshow (Aufzeichnung von ZDFneo, Juni 2010) beim Spiel »Wer bin ich?« für den Moderator Benjamin von Stuckrad-Barre ausgerechnet den Namen Joseph Goebbels wählt und diesen als »Mann, der gut mit Worten« war, und als »Menschenverführer« bezeichnet. Man braucht nicht notwendigerweise ein bewußtes Kalkül anzunehmen, um diese Provokationen und Entgleisungen politisch zu interpretieren.
Sarrazins bürgerliche Anhänger wissen die Zeichen zu deuten und ihren Teil zur neurechten Geschichtspolitik beizusteuern. Der konservative Publizist und ehemalige Staatssekretär in Hessen, Alexander Gauland, schreibt im Berliner Tagesspiegel (5. 9. 2010): »Ob es nun 95, 90 oder 70 Prozent sind, die den Thesen und Schlußfolgerungen Sarrazins zustimmen, jedenfalls sind es zu viele, um dagegen auf Dauer Politik zu machen. 65 Jahre nach dem Ende des NS-Regimes reicht es nicht mehr aus, unbequeme Wahrheiten mit dem Hinweis auf Auschwitz zu unterdrücken.« Das unterstellt, im Namen von Auschwitz sei Wahrheit unterdrückt worden, eine Aussage, der jeder Holocaust-Leugner beipflichten würde.
Berthold Kohler beklagt eine vermeintliche Einschränkung der Meinungsfreiheit: »Die Linke in Politik und Publizistik zog die roten Linien, von der Ausländerpolitik bis zur Vergangenheitsbewältigung«, auch in der »stromlinienförmig gewordenen CDU« und von der »Bundesbank bis zur Vertreibungsstiftung« (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. 9. 2010). Als Opfer dieser Linken nennt Kohler »Hohmann, Clement, Sarrazin oder Steinbach«. Der aus der SPD ausgetretene Wolfgang Clement fällt etwas aus der Reihe. Er hatte als Mitglied des RWE-Aufsichtsrats im hessischen Wahlkampf vor einer Stimmabgabe zugunsten seiner eigenen Partei gewarnt und dabei energiepolitische Gründe angeführt. Die übrigen Genannten eint, daß sie mindestens rechtskonservative Positionen vertreten.
Von Erika Steinbachs geschichtsrevisionistischen Entgleisungen war bereits die Rede. Die Vorsitzende des »Bundes der Vertriebenen« verließ zwar den CDU-Vorstand, ist aber nach wie vor Mitglied der Partei.
Martin Hohmann (damals CDU) hatte am 3. Oktober 2003 eine Rede gehalten. Darin bemängelte er eine angebliche Bevorzugung von Ausländern gegenüber Deutschen. Zum Beleg führte er an, die Bundesregierung sei nicht bereit, »ihre Entschädigungszahlungen nach dem Bundesentschädigungsgesetz (also an – vor allem jüdische – Opfer des Nationalsozialismus) der gesunkenen Leistungsfähigkeit des deutschen Staates anzupassen«. Den Gedanken, er wolle historische Tatsachen leugnen, wies er von sich. »Wir alle kennen«, behauptete er, »die verheerenden und einzigartigen Untaten, die auf Hitlers Geheiß begangen wurden. Hitler, als Vollstrecker des Bösen, und mit ihm die Deutschen schlechthin, sind gleichsam zum Negativsymbol des letzten Jahrhunderts geworden.« Gleich darauf klagte er über die US-Filmindustrie: »Tausende von eher minderwertigen Filmen sorgen (…) dafür, das Klischee vom (…) brutalen und verbrecherischen deutschen Soldaten wachzuhalten und zu erneuern.« Und weiter: »Schwere Sorgen macht eine allgegenwärtige Mutzerstörung im nationalen Selbstbewußtsein, die durch Hitlers Nachwirkungen ausgelöst wurde. Das durch ihn veranlaßte Verbrechen der industrialisierten Vernichtung von Menschen, besonders der europäischen Juden, lastet auf der deutschen Geschichte.« Hohmann warnte vor zu intensiver Beschäftigung mit der Naziherrschaft. »Immer und immer wieder die gleiche schlimme Wahrheit: Das kann, das muß geradezu psychische Schäden bewirken …« Schließlich zählte er, nachdem er sich auf Henry Fords antisemitisches Machwerk »The International Jew« (dt.: »Der internationale Jude«) berufen hatte, die prominenten Juden auf, die an der Russischen Revolution und an der Münchener Räterepublik teilgenommen haben. Und seine Schlußfolgerung lautete: Wegen dieser Beteiligung »könnte man Juden mit einiger Berechtigung als ›Tätervolk‹ bezeichnen. Das mag erschreckend klingen. Es würde aber der gleichen Logik folgen, mit der man Deutsche als Tätervolk bezeichnet. (…) Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir haben also gesehen, daß der Vorwurf an die Deutschen schlechthin, ›Tätervolk‹ zu sein, an der Sache vorbeigeht und unberechtigt ist. (…) Mit Gott in eine gute Zukunft besonders für unser deutsches Vaterland!« Hohmann wurde aus der CDU ausgeschlossen.
Mitstreiter für »Meinungsfreiheit«
Damals schlug sich unter anderem Vera Lengsfeld (CDU) im Interview mit der Jungen Freiheit (vgl. Spiegel online, 19. 12. 2003) auf Hohmanns Seite, sieben Jahre später verteidigt also Berthold Kohler den Politiker im Kontext der Debatte um Sarrazin. Hohmann hätte nicht ausgeschlossen werden dürfen, weil nicht aufgedeckt worden sei, daß »gegen ein Strafgesetz verstoßen worden ist«.
Im September 2011 hielt Hohmann übrigens eine Rede auf einer Veranstaltung der sogenannten Pius bruderschaft (Osthessen News, 3. 9. 2011), einer reaktionären Sekte innerhalb der katholischen Kirche, die vor allem dadurch bekannt geworden ist, daß einer ihrer Bischöfe, Richard Williamson, den Holocaust leugnet.
Die Erinnerung an den Faschismus bleibt ein Ärgernis für die alte wie die »Neue Rechte«. Deshalb verwundert es nicht, daß von dieser Seite nicht nur hartnäckige Versuche des Geschichtsrevisionismus kommen, sondern auch Klagen, man könne sich mit seinen eigenen Interpretationen und politischen Ansichten nicht weit genug durchsetzen. Aber man scheint einen neuen Mitstreiter gefunden zu haben. Der Redakteur der rechtsgerichteten Zeitschrift Sezession, Götz Kubitschek, teilt mit, Sarrazin habe bei einer Veranstaltung in Dresden angedeutet, ein neues Buch über »Meinungsfreiheit« zu planen. (…)
Thomas Wagner/Michael Zander: Sarrazin, die SPD und die Neue Rechte - Untersuchung eines Syndroms. spotless Verlag, 160 Seiten, 9,95 Euro
RE: Braunes" Gedankengut" in Deutschland
in Gesellschaft 19.12.2011 08:39von Lisadill • 744 Beiträge
Buchrezension
Bedrückungen
Ein Buch Thomas Lührs über Krise und »Rechtspopulismus«
Von Werner Seppmann
»Wir lassen uns nicht einschüchtern.« Nach Brandanschlägen auf Neonazigegner demonstrierten am Samstag in Eschede Hunderte Bürger gegen rechts
Foto: dapd
Thomas Lührs Buch »Prekarisierung und ›Rechtspopulismus‹. Lohnarbeit und Klassenbewußtsein in der Krise« ist von dramatischer Aktualität. Denn wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, daß die braune Gefahr größer ist als allgemein dargestellt, dann hat ihn nicht erst die Aufdeckung des »Zwickauer Terrortrios« geliefert: Auch relevante politische Kräfte (Guttenberg und Co.) formieren sich, um einer rechten Stimmungslage ein organisatorisches Profil zu geben.
Bei allen Diskussionen über das »Versagen« der staatlichen Apparate in der Auseinandersetzung mit dem Neofaschismus, trotz demonstrativer Betroffenheitsgesten und »Aufdeckungsbemühungen«, wird über die gesellschaftlichen Ursachen des Neofaschismus konsequent geschwiegen. Unausgesprochen bleibt, daß Fremdenfeindlichkeit und Menschenhaß ebenso wie fetischisierte Bewußtseinsformen und eine latente Aggressionsbereitschaft aus den Funktionsprinzipien der kapitalistischen Gesellschaftsformation resultieren: Es ist die für den Kapitalismus konstitutive Konkurrenzorientierung, durch die die Gesellschaftssubjekte gegeneinander positioniert werden; es ist seine krisengeprägte Entwicklungsform, die sie verunsichert und – wenn alternative Formen der Orientierung an den Rand gedrängt sind – zu irrationalistischen Erklärungsmustern greifen und unter bestimmten Umständen auch in einen gewalttätigen Aktivismus abgleiten läßt.
Nicht einmal vom Naheliegenden ist bei der politischen und massenmedialen Beschäftigung mit dem gewaltbereiten Faschismus die Rede, daß nämlich die Verbreitung des Rechtsextremismus insbesondere in Ostdeutschland eng mit der Ausdehnung von Prekaritätszonen und der Verallgemeinerung sozialer Perspektivlosigkeit zusammenhängt. Viele Menschen wurden durch die Rekapitalisierungsprozesse aus der Bahn geworfen, und ihnen ist deutlich zu verstehen gegeben worden, daß sie sozial überflüssig geworden sind. Dadurch waren sie leicht von rechtsradikalen Propagandisten zu beinflussen – die anfänglich fast ausnahmslos aus dem Westen kamen.
In gesamtdeutscher Perspektive hat auf dem Territorium der DDR in dem Sinne eine »nachholende Entwicklung« stattgefunden, was in den Jahrzehnten zuvor in den westlichen Teilen des Landes geschah: Sozial verunsicherte und durch die Krisenentwicklung psychisch destabilisierte Menschen öffneten sich bereitwillig (auch weil sie immer schon latent in den Alltagszusammenhängen existieren) rechten Stimmungen und »rechtspopulistischen« Pseudoerklärungsmustern.
Thomas Lühr erklärt mit den Methoden einer historisch-materialistischen Subjektwissenschaft, warum existentiell bedrohte und sozial entwurzelte Menschen nach dem ersten weltanschaulichen Strohhalm greifen, um sich die Illusion einer »Welterklärung« und sozialer »Handlungsfähigkeit« zu verschaffen.
Die bedrohlichen Umwälzungen der Sozialverhältnisse, die Ausbreitung prekärer Arbeits- und Lebensformen und mit ihnen die Verallgemeinerung von Unsicherheit und Existenzangst führen zwar nicht zwangsläufig zur Entwicklung rechtsextremer Dispositionen. Aber es existiert eine hohe Wahrscheinlichkeit ihrer Ausbreitung und Akzeptanz, wenn die Kultur eines kritischen Wissens und Widerstandsbewegungen gegen die sozioökonomische Krisenentwicklung schwach entwickelt sind.
Ausführlich analysiert Lühr, daß diese Reaktionen eine selbstunterdrückende Verarbeitungsform von Krisenerfahrungen darstellen, die Betroffenen ihre Bedrückungen faktisch in einer herrschaftskonformen Weise zu bewältigen versuchen. Er beschäftigt sich aber auch mit den Bedingungen (politisch-kultureller und organisatorischer Art), die einer progressiven Verarbeitungsform bzw. konkret ausgedrückt, der Entwicklung von Klassenbewußtsein und Klassenhandeln, förderlich sind.
Lührs Buch setzt für eine linke Diskussion Maßstäbe, der in wichtigen theoretischen Belangen ihre kritischen Denkzeuge abhanden gekommen sind und die sich nicht selten desorientiert präsentiert. Der Autor zeigt unmißverständlich, daß gerade zum Verständnis subjektiver Reaktionsmuster und individueller Bewußtseinsformen die klassentheoretische Sichtweise unverzichtbar ist. Denn Subjektivität und die mit ihr verbundenen Gesellschaftsbilder entstehen ausschließlich im Kontext konkreter Sozial lagen und Machtkoordinaten – auch wenn sie nicht vollständig aus ihnen zu erklären sind. Sie sind von ihren objektiven Entstehungsbedingungen nicht gänzlich »determiniert«, weil mehr als nur ein Rest individueller »Selbsttätigkeit« existiert, sich die Subjektivitätsstrukturen der Alltagssubjekte durch die Auseinandersetzung mit ihren materiellen und ideologischen Existenzbedingungen herausbilden.
Die Quintessenz der subjekttheoretischen, sozialpsychologischen und ideologiekritischen Beschäftigung mit dem Rechtsextremismus bei Lühr ist, daß zu einer wirksamen Initiative gegen rechts der bloß vernunftorientierte Appell nicht ausreicht. Den »Mühseligen und Beladenen« müssen realistische Lebensperspektiven, und das heißt Konzepte der Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse, vermittelt werden, die ihren Problemen und Lebensansprüchen angemessen und alltagspraktisch plausibel sind.
Thomas Lühr: Prekarisierung und »Rechtspopulismus« - Lohnarbeit und Klassenbewußtsein in der Krise. PapyRossa Verlag, Köln 2011,
RE: Braunes" Gedankengut" in Deutschland
in Gesellschaft 22.12.2011 03:18von Jonas • 615 Beiträge
Zu Aly nochmal: im Spektrum der Einflussfaktoren
- Gene
- Eltern, usw.
- lokale soziale Umgebung
- globale soziale Umgebung (Kultur)
hat er klar den Fokus auf der Ausbreitung der (Un)Kultur, nicht warum der Einzelne empfänglich ist: er ist halt Historiker und nicht Psychologe, irgendwo muss man die Grenze der eigenen Spezialisierung ziehen, Miller schreibt ja auch nicht über alles. Das schliesst eine Gesamtsicht der Faktoren ja nicht aus.
Ich finde seine Bücher lesenswert, denn man erhält einen Einblick in die Mechanik des Terrors, seine Entstehung und Selbstverstärkung (Kultur des Terrors). In "Vordenker der Vernichtung" finde ich besonders den Karriere-Gedanken abschreckend: Nazitum als Möglichkeit an den bestehenden Strukturen vorbei schnell Karriere zu machen und Raumplanung "auszuprobieren" ... In "Hitlers Volksstaat" wird insbesondere die Logik der Kriegsfinanzierung beleuchtet, die Ausrottung bereits stigmatisierter Bevölkerungsteile u.a. zur Kriegsfinanzierung.
Der Schritt um an solchen Dingen teilzunehmen ist natürlich kleiner, wenn bereits innere Armut vorliegt und umgekehrt zeitigt die Unkultur weitere innere Armut.
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Zur Propaganda: ich finde es unerträglich wenn die Namen von Neo-NS-Organisationen im Radio und anderen Medien wieder und wieder wiederholt werden. "Rechtsterroristische Gruppe" wäre völlig hinreichend als Beschreibung. Die Medien verbreiten die Unkultur durch die Nennung.
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Und heute aktuell: Aly gegen Wehler
http://www.freitag.de/kultur/1151-von-sa...en-und-irrwegen
RE: Braunes" Gedankengut" in Deutschland
in Gesellschaft 22.12.2011 18:30von Lisadill • 744 Beiträge
infant brain devolopment
http://video.google.com/videoplay?docid=8626862000991071711
RE: Braunes" Gedankengut" in Deutschland
in Gesellschaft 24.12.2011 13:34von Lisadill • 744 Beiträge
»Ich glaube, das ist typisch für Deutschland«
Gespräch mit Bodo Ramelow. Über Verstrickungen der Geheimdienste in rechte Terrornetzwerke, Bespitzelung von Linken und Repression gegen Antifaschisten
Interview: Markus Bernhardt, Erfurt
Berlin, 10. Dezember: Demonstration gegen Rassismus am Internationalen Tag der Menschenrechte
Foto: Christian Ditsch/Version
Bodo Ramelow ist Vorsitzender der Linksfraktion im Thüringer Landtag
Die mindestens aus den 1998 untergetauchten Neonaziaktivisten Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe bestehende braune Terrorgruppe »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) wird unter anderem für die in den Medien unter dem Label »Döner-Morde« bekanntgewordenen gezielten Erschießungen verantwortlich gemacht, bei denen zwischen 2000 bis 2006 insgesamt neun Menschen mit Migrationshintergrund ums Leben kamen. Zudem sollen die Neonazis am 25. April 2007 in Heilbronn eine Polizistin erschossen und ihren Kollegen durch einen Kopfschuß schwer verletzt haben sowie für einen Nagelbombenanschlag 2004 in Köln verantwortlich sein. War ein derartiges Ausmaß des rechten Terrors für Sie bisher vorstellbar?
Nein, emotional betrachtet nicht. Ich habe mich immer geweigert, mir so etwas vorzustellen. Aber angesichts der rassistischen Morde, die hier in Deutschland begangen wurden, hätten alle Behörden – rational gesehen – immer wissen können, daß die Gewaltbereitschaft der Nazis so extrem ausgeprägt ist. Kurz gesagt: Rational Ja, emotional Nein.
Aktuell wird viel über die Verstrickungen der bundesdeutschen Geheimdienste in das NSU-Netzwerk debattiert. Glauben Sie, daß sich die Behörden der Mittäterschaft an dem braunen Terror schuldig gemacht haben?
Wenn man von heute aus die neun rassistischen Morde betrachtet und den an der Polizistin anschaut, ist klar, daß sich die Behörden diese Dimension auch nicht vorstellen wollten. Aber das Verharmlosen der neofaschistischen Szene war Grundlage der Arbeit der Behörden. Die Büchse der Pandora, die dann aufgegangen ist, ist jedoch von den Geheimdiensten erst erzeugt worden.
Wir müssen im Rahmen der aktuellen Diskussionen auch die Situation in den 1990er Jahren in Thüringen betrachten: Nach der Wende kamen die hochkarätigen Altnazis – etwa Michael Kühnen, Manfred Roeder oder auch Jürgen Rieger – aus Westdeutschland alle hierher. Das war ein Potential von rechten Kadern, die auf junge Leute trafen, die nach neuer Orientierung suchten.
Wenn man sich außerdem erinnert, daß der frühere CDU-Ministerpräsident Bernhard Vogel – wie wir es ja damals auf dem Appellplatz im KZ Buchenwald erlebt haben – die Selbstbefreiung vor den anwesenden Buchenwaldhäftlingen verleugnete. Und gleichzeitig an die Zeit denkt, in der in Erfurt das Denkmal des unbekannten Wehrmachtsdeserteurs aufgestellt werden sollte, und es wieder Vogel war, der am vehementesten gegen das Denkmal gekämpft hat, das das Ansehen der guten Soldaten beschädigen würde, erklärt sich, wie Behörden getickt haben.
Und dann haben wir es zu tun gehabt mit dem Neuaufbau eines Landesamtes für Verfassungsschutz, wo Karrieren gemacht wurden. Westdeutsche Beamte, die endlich Riesensprünge in ihrem persönlichen Fortkommen hatten. Und die waren stolz wie Bolle, wenn sie V-Leute nahe an der rechten Szene bzw. direkt darin installiert hatten. Tatsächlich haben sie im Endeffekt derart viel Geld in die Szene reingepumpt, daß sich deren Strukturen überhaupt erst festigen konnten.
Der neofaschistische »Thüringer Heimatschutz« (THS) wäre ohne Tino Brandt und Tino Brandt ohne den Verfassungsschutz nicht denkbar gewesen. Das heißt, der NSU, der dann aus dem »Thüringer Heimatschutz« entwachsen ist, hat seinen Humus gelegt bekommen in all dem Geld, das der Verfassungsschutz dort hinein gepumpt hat.
Helmut Roewer, ehemaliger Leiter des Verfassungsschutzes in Thüringen, pflegte offenbar einen recht eigenwilligen Umgang mit V-Leuten. Hat er die Grundlage für die Gründung des NSU gelegt?
Das alles nur auf Helmut Roewer zu reduzieren, wäre ein großer Fehler. Roewer hat etwas bunter, wirrer und spektakulärer das gemacht, was alle Geheimdienste in Deutschland machen. Und bis heute habe ich den Eindruck, daß über das, was in den Verfassungsschutzbehörden in Sachsen oder Bayern passiert, nicht einmal geredet wird.
Wir reden in Thüringen wenigstens offen über die diese Fehlentwicklungen. Hingegen tun andere das gleiche, was hier zuvor 18 Jahre auch gemacht worden ist: Tarnen und Täuschen.
Roewer ist natürlich trotzdem ein seltsamer Amtsleiter gewesen. Warum er nun in einem seltsamen Verlag Bücher veröffentlicht, in dem Nazis auch veröffentlichen, kann ich gar nicht beantworten. Aber ich weiß, in seiner Amtszeit war das Landesamt für Verfassungsschutz in sich so zerstritten, wie kaum eine andere Behörde. Innerhalb des Amtes haben sich offensichtlich alle gegenseitig betrogen und belogen. Gleichzeitig haben sie die rechte Szene durchdrungen und Feindbilder entstehen lassen, die man dann mit staatlichen Geld bekämpfen wollte.
Das ist eine Form von Arbeitsplatzbeschaffung und Arbeitsplatzsicherung, die leider am Schluß in einer mörderischen Logik endete.
Jedoch ist Roewer bereits 1999 mit der öffentlichen Äußerung aufgefallen, daß der sogenannte Nationalsozialismus »gute und auch schlechte Seiten« gehabt habe und Neonazis im Gegensatz zu Antifaschisten »unproblematische Gruppen« seien. Ist Roewer ein Einzelfall, oder ist derartiges Denken Konsens bei den Verfassungsschutzämtern?
Ich glaube, das ist typisch für Deutschland. Das ist eine typische Gleichsetzung von Nazis und ihren entschiedensten Gegnern, die ich in dieser Form immer wieder auch in Westdeutschland gehört und erlebt habe.
Also trägt der Thüringer Verfassungsschutz eine deutliche Mitverantwortung an den NSU-Taten? Schließlich hat der V-Mann der Behörde, Tino Brandt, sich ja gerühmt, die Honorare für seine Spitzeltätigkeit zum Aufbau der neofaschistischen Strukturen genutzt zu haben.
Die Frage ist, was genau man unter einer Mitverantwortung versteht. Ich verstehe nicht darunter, daß die Behörde die Taten mitbegangen oder davon gewußt hat. Ich unterstelle aber, daß wenn man Täter dieser Kategorie untertauchen läßt und anschließend alles tut, daß diese Täter nicht gefangen werden, man eine Mitverantwortung hat.
Soweit gibt es eine geistige Mitverantwortung, jedoch keine persönliche, im Sinne dessen, daß die Taten vom Amt begangen worden seien. Es deutet auch nichts darauf hin, daß Mundlos, Böhnhardt und Beate Zschäpe geführte V-Leute gewesen sind. Zumindest nicht des Thüringer Verfassungsschutzes. Was ich nicht beantworten kann, ist, inwieweit andere deutsche Geheimdienste diesbezüglich ihre Finger im Spiel hatten. Da gibt es noch einige Spuren, denen wir im Moment noch nachgehen. Das ist aber schwierig von Thüringen aus zu beurteilen.
Fernab dessen steht fest, daß es ohne Tino Brandt und ohne den THS diese Form des NSU nicht gegeben hätte. Wir sprechen ja von einer langjährigen Struktur, die diese Zelle getragen hat. Nach unserer Einschätzung haben wir es mit etwa 20 mehr oder minder aktiven Personen in der NSU-Zelle zu tun, die wiederum von rund 140 Personen aus dem Nazimilieu deutschlandweit getragen worden sind. Und überall an diesen Stellen finden wir Leute, die im Dienst der Verfassungsschutzämter stehen. Wir haben es mit fünf Organisationen zu tun, in denen die Akteure immer gut vernetzt agiert haben: THS, Blood & Honour, NPD, NSU und das sogenannte Freie Netz.
Für mich ist etwa völlig unglaubwürdig, daß die Sicherheitsbehörden in Sachsen 13 Jahre lang nichts gehört, gesehen und mitgekriegt haben wollen. Das ist mir völlig unbegreiflich und vollends inakzeptabel. Ich habe vielmehr den Eindruck, daß die Behörden in Sachsen heute noch dort mauern, wo in Thüringen bereits drüber geredet wird.
Welche Rolle spielen Ihres Erachtens die Apologeten der sogenannten Extremismustheorie um Patrick Moreau, Helmut Roewer, Eckhard Jesse und Uwe Backes, die im sogenannten »Veldensteiner Kreis zur Geschichte von Extremismus und Demokratie« zusammengearbeitet haben?
Bodo Ramelow
Bezüglich des Treibens dieser Personen muß man wissen, daß der Arbeitnehmerflügel der CDU, die CDA, in der Nachwendezeit zwei Broschüren gegen linke Gewerkschafter und die »Erfurter Erklärung« (am 9. Januar 1997 veröffentlichter Appell zur »Verantwortung für die soziale Demokratie«, der von zahlreichen Wissenschaftlern, Künstlern, Gewerkschaftern und Politikern unterzeichnet wurde, darunter Elmar Altvater, Frank Castorf, Daniela Dahn, Heinrich Fink, Günter Grass, Stefan Heym, Rudolf Hickel, Walter Jens, Toni Krahl, Peter von Oertzen, Norman Paech, Ulrich Plenzdorf, Horst Eberhard Richter, Horst Schmitthenner, Friedrich Schorlemmer, Dorothee Sölle, Eckart Spoo, Uwe Wesel und Gerhard Zwerenz – d. Red.) herausgebracht hat. In beiden Fällen ging es um mich, aber auch um andere Gewerkschafter wie Angelo Lucifero oder Frank Spieth.
Besagte Broschüren wurden von der CDU bzw. der CDA offiziell herausgegeben, mit deren Parteienfinanzierung bezahlt, von Patrik Moreau geschrieben und unter Decknamen veröffentlicht.
Niemand von den Akteuren hat es bis heute auch nur für nötig gehalten, sich dafür zu entschuldigen.
Und damit wird klar, was das für Apologeten sind, von denen Eckard Jesse nur das intellektuelle Sahnehäubchen ist. Er ist beim letzten NPD-Verbotsverfahren als Gutachter vor Gericht gegen das Verbot der faschistischen Partei aufgetreten und geht in seinen Büchern von der These aus, daß der »weiche Extremismus« meiner Partei gefährlicher sei, als die NPD.
Wenn man natürlich eine solche angeblich wissenschaftliche These in die Welt setzt, sind wir bei der bösen Gleichstellung links gleich rechts, und das macht gemeinsames gesellschaftliches Handeln gegen Nazis nahezu unmöglich. Wir schaffen es nicht, durchschnittliche Menschen gegen rechts zu mobilisieren, wenn sie sich damit der Gefahr aussetzen, auf einmal als Linksextremist diffamiert zu werden. Also wenn Lothar König, der Jugendpfarrer von Jena, von den Behörden nun zum Linksextremisten gemacht wird und wenn aus der Behauptung, aus seinem Lautsprecherwagen in Dresden sei rhythmische Musik gespielt worden und das gewaltverherrlichend und ein Aufruf zur Gewalt gegen Polizisten gewesen sein soll, stimmt etwas nicht. Daß Staatsanwälte so etwas überhaupt auf aufschreiben, finde ich indes das eigentlich negativ Elektrisierende. Derlei müßte uns alle alarmieren. Und in dieser Woche verurteilt ein sächsischer Richter einen friedlichen Blockierer mit der Begründung, daß der braune Ungeist eine schützenswerte Minderheit sei. So wird durch einen Richter die Rechtssprechung zum Schutz für rechts.
Insofern sollten wir alle so linksextrem sein wie Lothar König und so demokratisch wie die zehntausend Menschen, die in diesem Jahr in Dresden auf die Straße gegangen sind und den Naziaufmarsch blockiert haben. Aber: Es sind die Eckard Jesses und deren Jünger, die dafür sorgen, daß die breite bürgerliche Masse der Menschen sich nicht aufgerufen fühlt, gegen die Nazis auf die Straße zu gehen und bei dem »Aufstand der Anständigen« dabeizusein. Dann kann man zwar sagen, die Zuständigen sollten handeln, die handeln aber auch nicht. Und wenn man so eine Braunzone wachsen läßt, sind wir eben wieder bei den Zuständen, die die Demokratie gefährden.
In diesem Jahr ging die Polizei mit massiver Gewalt gegen die Nazigegner vor, die den erwähnten Aufmarsch der Nazis wiederholt erfolgreich blockiert haben. Der Polizeieinsatz von Dresden erinnerte mitsamt der eingesetzten Überwachsungsdrohnen, Unmengen an Pfefferspray und scharfgemachten Hunden an bürgerkriegsähnliche Zustände …
Wir müssen alles tun, daß diese bürgerkriegsähnlichen Zustände unmöglich gemacht werden. Daher sollten am besten nicht nur zehntausend, sondern nächstes Jahr mindestens 25000 Menschen in Dresden an den antifaschistischen Blockaden teilnehmen.
Sie werden auch wieder mitblockieren?
Selbstverständlich!
Sie wurden über Jahrzehnte von den bundesdeutschen Geheimdiensten bespitzelt. Kürzlich wurde sogar ihre Immunität als Abgeordneter aufgrund Ihrer Teilnahme an den Protesten gegen den Naziaufmarsch in Dresden aufgehoben. Hat das Ihr Verhältnis zum »Rechtsstaat BRD« beeinträchtigt?
Ich wundere mich diesbezüglich über gar nichts. Deswegen hat sich für mich auch nichts verändert. Ich war am Anfang nur ein bißchen erstaunt, daß mich die Überwachung genauso betrifft wie es früher in Westdeutschland viele Lehrer getroffen hat. Also das Spitzelklima, das wir in Westdeutschland hatten, die Berufsverbote und ähnliches.
Meine Solidarität mit einem Berufsverbotsopfer war es ja, die mir meine eigene Bespitzelung eingebracht hat. Deswegen kämpfe ich mit allen juristischen Mitteln dagegen. Und das nicht ohne Erfolg: Das Thüringer Landesamt hat die ganze Bespitzelung meiner Person mit dem Schuldeingeständnis eingestellt, daß alle Daten, die über mich gespeichert worden sind, rechtswidrig gesammelt wurden. Deswegen mußten die Prozeßkosten auch vom Land Thüringen bezahlt werden.
Im Bund ist es so, daß nach wie vor der Innenminister und sein Bundesamt für Verfassungsschutz vortragen lassen, daß man nicht ausschließen könnte, daß in der Linkspartei vielleicht Extremisten sein könnten. Ich habe immer gedacht, in einem Rechtsstaat gelte die Unschuldsvermutung, und wer eine Behauptung aufstellt, müsse sie auch beweisen. Jetzt erlebe ich an meinem Prozeß, daß eine Behauptung ausreicht, um einen Gesinnungstatbestand zu schaffen. Das halte ich für demokratiefeindlich. Und das ist einer der Gründe, warum ich diesbezüglich keine Kompromisse mache!
Insofern hat mich diese Bundesrepublik Deutschland, die mit der Integration vieler NSDAP-Größen kein Problem hatte, nie erstaunt. Und trotzdem habe ich mich immer wieder hingestellt und mich dafür ausgesprochen, gemeinsam gegen Neofaschismus zu kämpfen. Lieber wäre mir aber, wir hätten eine antifaschistische Klausel in den Landes- und der Bundesverfassungen. Damit würde klar, es geht bei der Propaganda der Neonazis nicht um Meinungsäußerungen. Meinungen muß man sagen dürfen. Aber man darf nicht eine Verherrlichung der singulären Verbrechen des deutschen Faschismus betreiben.
Faschismus ist schließlich keine Meinung, sondern ein Verbrechen und somit auch ein Verbrechenstatbestand. Das sollte eigentlich Staatsdoktrin sein. Alles, was gruppenspezifische Menschenfeindlichkeit ist – etwa Antisemitismus und Rassismus –, gehört für mich unter dem Begriff Verbrechen subsumiert. Dann wäre die Verfolgung und Ächtung Staatsauftrag und die Behörden hätten entsprechende Handlungen daraus abzuleiten.
Wie stehen Sie zu dem aktuell vielfach geforderten neuen Anlauf in Sachen NPD-Verbot?
Ein Verbot dieser Partei ist beileibe kein Allheilmittel. Es macht nur Sinn, wenn es fernab von Symbolhandlungen zu einer gesamtgesellschaftlichen Ächtung faschistischer Gedanken kommt.
Sollten die Verfassungsschutzämter aufgelöst werden?
Ja. Das Geheime im Geheimen kann nicht durch Parlamentarische Kontrollgremien und -kommissionen (PKK) aufgeklärt werden. Es ist doch so, daß das, was beispielsweise das Thüringer PKK-Mitglied an Fragen aufwirft, nicht mit den Mitgliedern der Kommissionen anderer Bundesländer ausgetauscht und diskutiert werden dürfte, da besagte Gremien zur Geheimhaltung verpflichtet sind.
Es ist also eine sinnlose Hoffnung, daß diese Gremien zur öffentlichen Erhellung beitragen würden. Trotz alledem verweigern wir uns der Arbeit in der PKK natürlich keineswegs. Schließlich wollen wir herausbekommen, wo es zu Organisa tionsverschulden und wo zu einer eventuellen Mittäterschaft der Geheimdienste gekommen ist.
Im Gegensatz zu anderen Bundesländern ist man übrigens in Thüringen derzeit bemüht, meine Fraktion in die Aufarbeitung des Skandals einzubeziehen. Es gibt aber natürlich auch Grenzen der Aufklärung, die wir hier überhaupt zu leisten imstande sind. So ist etwa die Aufklärung möglicher Verstrickungen des Bundesnachrichtendienstes oder des Militärischen Abschirmdienstes der Bundeswehr Aufgabe der Bundespolitik. Auch wen das Bundesamt für Verfassungsschutz hier als Quelle führt, werden wir hier vor Ort nie rausbekommen. Wir versuchen jedenfalls, den NSU-Geheimdienstskandal so transparent wie möglich zu gestalten und der Öffentlichkeit auf unseren Internetseiten zugänglich zu machen.
www.jungewelt.de
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