UNSERE ZUKUNFT

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#1

Armut in Deutschland

in Gesellschaft 12.12.2011 20:42
von Lisadill • 744 Beiträge

Arm stirbt früh

Von Ralf Wurzbacher


Mit Niedriglöhnen stirbt es sich früher in Deutschland. Nach Auskunft der Bundesregierung ist die Lebenserwartung von Menschen mit geringen Einkünften binnen eines Jahrzehnts wider den allgemeinen Trend um zwei Jahre zurückgegangen. Lag diese zum Jahrtausendwechsel noch bei im Schnitt 77,5 Jahren, waren es 2010 nur mehr 75,5 Jahre. Dies geht aus der Antwort auf eine große Anfrage des rentenpolitischen Sprechers der Bundestagfraktion Die Linke, Matthias Birkwald, hervor. Das von der Regierung präsentierte Zahlenwerk bietet zudem neuen Argumentationsstoff gegen die Rente mit 67, deren schrittweise Umsetzung am 1. Januar 2012 losgeht. Demnach hat die Zahl der über 60jährigen in einem sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnis nur minimal zugelegt.

Die Situation Älterer auf dem Arbeitsmarkt sei »weiterhin niederschmetternd schlecht«, resümierte Birkwald in einer schriftlichen Stellungnahme vom Montag. Gerade einmal 9,3 Prozent aller 64jährigen und nur 5,5 Prozent der 64jährigen Frauen seien zum Stichtag 31. März 2011 einer Vollzeitbeschäftigung nachgegangen. Von allen 60- bis 64jährigen standen zu diesem Zeitpunkt 26,4 Prozent irgendwie in Lohn und Brot, im Vorjahr waren es lediglich 1,5 Prozent weniger. Vollzeit arbeiteten davon nur 18,7 Prozent. Ein kräftiger Beschäftigungsschub im Alter, der aus Sicht der Regierung unter anderem ein höheres Renteneintrittsalter rechtfertigen soll, ist also weiterhin nicht in Sicht. »Die Rente mit 67 ist nach wie vor nichts anderes als ein gigantisches Rentenkürzungsprogramm, das Geringverdiener und Menschen, die körperlich schwer arbeiten müssen, besonders hart trifft«, beklagte der Linke-Politiker.

Tatsächlich haben Betroffene im Alter künftig nicht nur weniger zum Dasein, sie leben auch kürzer. Besonders ausgeprägt ist der Zusammenhang von materieller Armut und frühem Tod in Ostdeutschland. Hier ist die Lebenserwartung ehemals prekär Beschäftigter, also solcher, die bei mindestens 35 Versicherungsjahren weniger als drei Viertel des Durchschnittseinkommens bezogen, in der zurückliegenden Dekade von 77,9 auf 74,1 Jahre gesunken – ein Minus von 3,8 Jahren. Bezogen auf alle sogenannten langjährig Versicherten beträgt die Lebenserwartung knapp über 80 Jahre. Laut Statistischem Bundesamt können die heute 65jährigen Männer im Mittel mit rund 17 und Frauen mit über 20 weiteren Lebensjahren rechnen. Männer mit hohem Einkommen leben heute rund anderthalb Jahre länger als 2001. Damit greift zumindest für die hierzulande stetig wachsende Zahl der Geringverdiener auch die Formel nicht, wonach eine längere Rentenbezugsdauer einen späteren Renteneintritt unumgänglich mache.

Mit »Erschrecken« hat der Sozial verband VdK Deutschland auf die Veröffentlichung reagiert. »Schlechte Arbeitsbedingungen und Niedriglohn machen krank, verursachen Altersarmut und lassen Menschen früher sterben«, äußerte sich deren Präsidentin Ulrike Mascher gestern in einer Medienmitteilung. Auch sie fordert die politisch Verantwortlichen auf, die Rente mit 67 zu stoppen. Wer künftig nicht solange arbeiten könne, müsse für zwei Jahre vorzeitigen Rentenbeginn Abschläge von 7,2 Prozent in Kauf nehmen, rechnete die Verbandschefin vor und warnte vor einem steigenden Risiko für Altersarmut. Birkwald hat für den kommenden Donnerstag einen Antrag seiner Fraktion im Bundestag angekündigt, der auf eine Rücknahme der Rente mit 67 »ohne Wenn und Aber« zielt.

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#2

RE: Armut in Deutschland

in Gesellschaft 13.12.2011 12:29
von Regina • 116 Beiträge

Schlüssig dazu passen dann die Überlegungen, bei jedem Arztbesuch abzukassieren.
Trifft ja auch nur die Bevölkerungsschicht, die auch am meisten krank ist...

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#3

RE: Armut in Deutschland

in Gesellschaft 13.12.2011 13:49
von Lisadill • 744 Beiträge

stimmt Regina,dass ist fies und empoerend. wo sind die Leute die fuer soziale Gerechtigkeit demonstrieren wollen.Hier in Muenchen gibt es seit Jahren am Marienplatz ein kleines unbeugsames Grueppchen, dass sich am Montag vor dem open mic trifft. Frueher am Beginn vor 5 Jahren sind wir noch ein paar Hundert gewesen und sogar durch die Innenstadt mit Transparenten gelaufen. ich finde diese Thema muss sichtbar bzw.hoerbar gemacht werden.
Selbst in Muenchen gibt es immer mehr working poors. Und natuerlich auch das krasse Gegenteil davon.

Viele Gruesse,
Silke(y)


zuletzt bearbeitet 13.12.2011 13:50 | nach oben springen

#4

RE: Armut in Deutschland

in Gesellschaft 13.12.2011 22:40
von Lisadill • 744 Beiträge

die Gesellschaft spaltet sich mehr

Rohe Bürgerlichkeit
Studie zu »Deutschen Zuständen« offenbart zunehmende Diskriminierung von Fremden und sozial Schwachen. Mentalität von Besserverdienenden spaltet
Von Ralf Wurzbacher

35 Prozent der Deutschen wollen Obdachlose in den Fußgängerzonen nicht mehr sehen

Eine Studie zur rechten Zeit. Während sich täglich deutlicher herausstellt, wie Neonazis über Jahre unbehelligt von Fahndern und Justiz ihre verächtliche Gesinnung exerzieren konnten, hat jetzt die Wissenschaft eine dazu passende Erkenntnis geliefert: Die Diskriminierung von Minderheiten in Deutschland nimmt wieder zu. Fremdenfeindlichkeit, Rechtspopulismus, Rassismus sowie die Abwertung von Arbeitslosen und Behinderten haben sich in jüngeren Jahren deutlich verstärkt. So lauten zentrale Ergebnisse der Langzeituntersuchung »Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit«, die ein Autorenteam um den Bielefelder Sozialforscher Wilhelm Heitmeyer am Montag in Berlin vorgestellt hat.

Die im zehnten und vorerst letzten Band über »Deutsche Zustände« zusammengetragenen Befunde spiegeln eine bedrückende Entwicklung wider. Die Autoren erkennen eine wachsende Spaltung einer durch permanente Krisen verunsicherten Gesellschaft. »Entsicherung, Richtungslosigkeit und Instabilität« seien zur »neuen Normalität« geworden, die »Nervosität« scheine über alle sozialen Gruppen hinweg zu steigen. Am Ende des »entsicherten Jahrzehnts« sehen die Autoren eine »explosive Situation als Dauerzustand«.

Von 2002 an hat Heitmeyers Forscherteam im Jahrestakt repräsentativ 2000 Deutsche zu ihren Einstellungen und Befindlichen befragt, um den Grad des Mit- oder Gegeneinanders in der Bevölkerung zu messen. War die Verbreitung der Fremdenfeindlichkeit lange Zeit rückläufig, zeigt sich seit 2009 wieder eine signifikante Zunahme von rassistischem Gedankengut. So hätten der Aussage »Wenn Arbeitsplätze knapp werden, sollte man die in Deutschland lebenden Ausländer wieder in ihre Heimat zurückschicken« in diesem Jahr 29,3 Prozent der Befragten zugestimmt, fünf Prozent mehr als im Vorjahr. Dazu kommt eine wieder stärkere Stigmatisierung von Erwerblosen und Menschen mit Behinderungen. Über 52 Prozent meinen etwa, die meisten Hartz-IV-Bezieher drückten sich vor der Arbeitssuche, 35 Prozent halten es für angebracht, bettelnde Obdachlose aus den Fußgängerzonen zu entfernen.

Einen Anstieg ermittelten die Forscher auch bei der Gewaltbereitschaft und -billigung. Die größte Gewaltbereitschaft zeigen mit Abstand Angehörige des rechten politischen Spektrums. Linke hingegen entsagen der Gewalt am stärksten, deutlich mehr als an der politischen Mitte Orientierte.

Zu den Ursachen für die erneut zunehmende Diskriminierung von Minderheiten trifft Heitmeyers Team bemerkenswerte Aussagen. In einem Begleittext zur Studie ist die Rede von einem »Klassenkampf von oben« und einer »rohen Bürgerlichkeit«, die sich bei der Beurteilung sozialer Gruppen an den Maßstäben der kapitalistischen Nützlichkeit, der Verwertbarkeit und Effizienz orientiert. Dieser »Ökonomisierung des Sozialen« entspringe die Sichtweise auf Menschen als »Nutzlose« und »Ineffiziente«. Beklagt wird eine Mentalität bei Besserverdienenden, die von der grundgesetzlichen Maxime, wonach Eigentum verpflichtet, »wenig wissen will und der sozialen Spaltung Vorschub leistet«.

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#5

RE: Armut in Deutschland

in Gesellschaft 13.12.2011 23:03
von Lisadill • 744 Beiträge
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#6

RE: Armut in Deutschland

in Gesellschaft 30.12.2011 06:48
von Lisadill • 744 Beiträge

30.12.2011 / Titel / Seite 1Inhalt
Arm mit und ohne Arbeit
Von Jörn Boewe

Das System Merkel ist auf Lohndumping und Prekarisierung gegündet. Aber wer hat’s erfunden? Ihr Amtsvorgänger und sein vorbestrafter Berater für Arbeitsmarktfragen
Foto: dapd
Rund 2,8 Millionen Beschäftigte verloren in den zurückliegenden zwölf Monaten ihren Arbeitsplatz. 737000 davon hatten keinen oder nur geringfügigen Anspruch auf Arbeitslosengeld I. Jeder vierte ist einer Studie der Bundesagentur für Arbeit zufolge unmittelbar auf Leistungen nach »Hartz IV« angewiesen. Dies berichtete am Donnerstag die Süddeutsche Zeitung, der das Dokument zunächst exklusiv vorlag. »Entweder war die Beschäftigungszeit zu kurz, um Ansprüche zu erwerben, oder das früher erzielte Lohneinkommen war zu niedrig, um mit dem daraus abgeleiteten Arbeitslosengeld-Anspruch den Bedarf zu decken, und muß mit Arbeitslosengeld II aufgestockt werden«, heißt es in dem Papier, das die BA gestern auf Nachfrage zur Verfügung stellte.

Der Anteil dieser »Anspruchslosen« ist in den letzten Jahren deutlich gestiegen. In diesem November waren es laut Studie 26 Prozent aller »Zugänge aus Beschäftigung im ersten Arbeitsmarkt« gegenüber 22 Prozent im November 2008. In absoluten Zahlen: Diesen November rutschten 61000 Menschen aus dem Job direkt in Hartz IV, zehntausend mehr als vor drei Jahren. Für die übrigen Jahre seit Inkrafttreten des Hartz-IV-Gesetzes im Januar 2005 konnte die BA gestern keine Vergleichszahlen nennen.

Nur wer in den letzten zwei Jahren vor Verlust seiner Erwerbstätigkeit zwölf Monate lang in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt hat, erwirbt einen Anspruch auf ALG I, in der Regel für zwölf Monate. Danach gibt es nur noch »Grundsicherung«.

Als Gründe dafür, daß immer mehr Versicherte die Voraussetzungen für den ALG-I-Anspruch nicht mehr erreichen, nennt die BA in ihrer Studie den »unsteten Beschäftigungsverlauf« und »das niedrige Einkommen« der Betroffenen. Als »wichtigste individuelle Ursache« macht die Agentur deren »mangelnde Qualifikation« aus.

So rutschen den Angaben zufolge 43 Prozent der geringqualifizierten Beschäftigten direkt in den ALG-II-Bezug, »von den Fachkräften dagegen ›nur‹ knapp 19 Prozent«. Immerhin: Ein Jahrzehnt nach der »Agenda 2010« der Schröder/Fischer-Regierung hat jeder fünfte Facharbeiter, der seinen Job verliert, keinen Anspruch mehr auf Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung. Fast jeder dritte, der aus dem Berufsleben in Hartz IV gestoßen wird, stand zuvor bei einer Leiharbeitsfirma unter Vertrag. Tatsächlich spricht alles dafür, daß Monat für Monat Zehntausende Lohnabhängige zwischen Leiharbeit und Hartz IV pendeln.

Passend zum Thema veröffentlichte das Statistische Bundesamt am Donnerstag die derzeit niedrigsten Tarifverdienste. Diese lagen im Dezember »in einigen Branchen unter 6,50 Euro je Stunde«. Dies geht im bayerischen Konditorhandwerk mit 5,26 Euro und im Fleischerhandwerk in Sachsen bei 6,00 Euro los. Die unterste Vergütung für Tarifbeschäftigte im Hotel- und Gastgewerbe beträgt in Brandenburg 6,29 Euro die Stunde, in Thüringen 6,50 Euro und in Nordrhein-Westfalen 6,74 Euro. In der ostdeutschen Systemgastronomie lag sie bei 6,85 Euro. Auch in anderen Dienstleistungsbranchen gelten tarifliche Stundenverdienste von deutlich unter 8,00 Euro, wie beispielsweise im Friseurhandwerk (Schleswig-Holstein: 6,00 Euro), in der Textilreinigung (Ost: 6,73 Euro), in der Zeitarbeit (Ost: 7,01 Euro). Aber auch in einigen Branchen der Industrie, wie der Schuhherstellung (Rheinland-Pfalz, Saarland: 6,35 Euro) oder der Holz- und Kunststoffverarbeitung (Thüringen: 7,54 Euro), wurden ähnlich niedrige tarifliche Stundenlöhne vereinbart.

www.jungewelt.de

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#7

RE: Armut in Deutschland

in Gesellschaft 13.03.2012 16:15
von Lisadill • 744 Beiträge

Hungerlöhne und Almosen
Position. Minijobs, Erwerbslosigkeit, Hartz IV – Armut in der BRD
Von Ingrid Jost


»Eine der schauerlichsten Folgen der Arbeitslosigkeit ist wohl die, daß Arbeit als Gnade vergeben wird. Es ist wie im Kriege: Wer die Butter hat, wird frech.«

Kurt Tucholsky (1890–1935), deutscher Journalist und Schriftsteller


Das Geschäft mit der Erwerbslosigkeit boomt. Es geht um Milliarden auf einem heiß umkämpften Markt, der den Betroffenen unsichere, schlecht bezahlte Beschäftigung und Zwangsmaßnahmen beschert. Es wäre naiv, den Verantwortlichen zu unterstellen, daß sie nicht wissen, was sie tun. Armut wurde und wird politisch gemacht. Die Gewinnmarge wird durch immer niedrigere Löhne und prekäre Arbeitsplätze erhöht – gerade auch im Bildungsbereich. Mindestlöhne für Akademikerinnen und Akademiker von 12,28 Euro (West) und 10,93 Euro (Ost) treiben gut etablierten Handwerkerinnen und Handwerkern sicher vor Lachen Tränen in die Augen. Im Friseurhandwerk, im Gastronomie- und Dienstleistungsbereich sind noch weit niedrigere Löhne die Regel.

Während die Zunahme der Armut, insbesondere die der Kinder, allgemein »Besorgnis« hervorruft, wächst der Niedriglohnsektor weiter, in dem in der Regel auch die Eltern der armen Kinder arbeiten. In diesem Bereich sind 22,8 Prozent (Stand 2010) der Vollzeitbeschäftigten tätig – überwiegend junge Menschen und Frauen, die zu Niedriglohnkonditionen arbeiten. Betroffen sind 715000 Jugendliche außerhalb der Ausbildung und 2,56 Millionen Frauen, die in Vollzeitbeschäftigung weniger als zwei Drittel des Durchschnittseinkommens verdienen (OECD-Niedriglohngrenze). Im Jahr 2010 war in absoluten Zahlen eine Zunahme von 199 762 Menschen im Niedriglohnbereich zu verzeichnen.

Während in anderen europäischen Ländern in den vergangenen Jahren die Löhne gestiegen sind, ist in Deutschland von 2000 bis 2009 laut »International Labour Organization« (ILO) ein Reallohnverlust von 4,5 Prozent zu verzeichnen. Das »Institut Arbeit und Qualifikation« (IAQ) kommt zu dem Ergebnis, daß die Niedriglöhne im untersten Viertel der am schlechtesten Verdienenden zwischen 2000 und 2006 regelrecht abgestürzt sind: Sie brachen um 13,7 Prozent unter das Niveau des Jahres 2000 ein (nominal lagen sie sogar darunter). Im zweiten Viertel sanken die Reallöhne noch um 3,2 Prozent, lediglich im dritten und vierten stiegen sie leicht an. Das heißt, es hat eine weitere Einkommensumverteilung von unten nach oben gegeben. Durch dieses Lohndumping wurden sehr viele Menschen arm trotz Arbeit, um wenigen zu noch mehr Reichtum zu verhelfen, der in die nächste Spekulationsblase investiert werden kann.
»Hilfsbedürftige«

Im Umgang mit Erwerbslosen wird ein ganz bestimmtes Menschenbild konstruiert: Millionen Menschen werden zu »Hilfsbedürftigen« erklärt. Ältere Menschen werden in der Regel geschätzt wegen ihrer persönlichen und beruflichen Erfahrungen, als Erwerbslose hingegen werden sie zu sogenannten Minderleistern, deren vermeintliche Defizite über Lohnzuschüsse ausgeglichen werden müssen. In der Umsetzung von Hartz IV wird ein hemmungsloser Abbau sozialer Rechte betrieben, die über Jahrzehnte hart erkämpft worden waren. Die gängige Legendenbildung suggeriert auch, daß im Niedriglohnbereich überwiegend Menschen ohne Ausbildung arbeiten. Statt dessen beträgt der Anteil derer mit Fachausbildung, Fachhochschul- und akademischem Abschluß zirka 80 Prozent, der Anteil derjenigen ohne Abschluß im Niedriglohnsektor ist dagegen geringer geworden. Zwangsmaßnahmen und weitere prekäre Beschäftigung werden gerechtfertigt, indem unterstellt wird, daß Erwerbslose dringend therapeutische oder sozialpädagogische Begleitung brauchen, um mit ihrem Leben zurechtzukommen. Arbeit wird so zum Therapeutikum und kann als »Maßnahme« verordnet werden – das bringt billige Arbeitskräfte, und die Betroffenen verschwinden aus der Erwerbslosenstatistik. Reguläre Arbeitsplätze werden von verarmten unterfinanzierten Kommunen abgebaut oder gar nicht erst eingerichtet, weil durch Hartz IV eine billige »Reservearmee« zur Verfügung steht, die diese Lücke füllt oder dank einer rigorosen Sanktionspraxis füllen muß.
Unsicher und mies bezahlt

Leiharbeit ist ein weiteres Instrument, um Arbeit billiger zu machen, die Profite zu privatisieren und die unternehmerischen Risiken zu vergesellschaften. Verglichen mit anderen europäischen Ländern ist die Verbreitung der »Zeitarbeit« in Deutschland leicht überdurchschnittlich. Der Arbeitsmarktbericht der Bundesagentur für Arbeit vom Januar 2012 erfaßt 910000 Leiharbeitsverhältnisse im Juni 2011. Der Anteil der Leiharbeiter an allen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten liegt bei knapp drei Prozent. 17 Prozent des Beschäftigungsanstieges von Juni 2010 bis Juni 2011 gingen auf die sogenannte Arbeitnehmerüberlassung zurück.

Während der Frauenanteil im Niedriglohnbereich 70 Prozent ausmacht, sind in der Leiharbeitsbranche 73 Prozent Männer. Die Hälfte dieser Beschäftigungsverhältnisse endet nach weniger als drei Monaten. Das Entlassungsrisiko ist überdurchschnittlich hoch, dafür liegen die mittleren Bruttoarbeitsentgelte in der Zeitarbeit im Durchschnitt unter den mittleren Entgelten und zwar für alle Branchen. Das Bundesarbeitsministerium teilt laut dpa mit, daß jeder zwölfte in diesem Bereich Beschäftigte im vergangenen Jahr zusätzlich zum Lohn Arbeitslosengeld II bezogen hat. Etwa 65000 Leiharbeiter in Deutschland hätten Leistungen aus der Grundsicherung für Arbeitslose erhalten. In den letzten zehn Jahren hat sich die Zahl der in diesem prekären Sektor ihren Lebensunterhalt Bestreitenden mehr als verdoppelt, die Zunahme an unsicheren und schlecht bezahlten Jobs ist zumindest teilweise auch Resultat der Hartz-Gesetze.

Im Rahmen dieser Hartz-Gesetze soll zudem zahlreichen Alleinerziehenden »geholfen« werden, sich im regulären Arbeitsmarkt einzufinden. Unerwähnt bleibt die Tatsache, daß die Zahl der existenzsichernden Arbeitsplätze bestenfalls gleichgeblieben und lediglich die Zahl der prekären gestiegen ist. Unter der Beteiligung von Grundsicherungsstellen werden aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds (EFS) und des Bundes 79 lokale und regionale sogenannte Xenos-Projekte mit zirka 60 Millionen Euro finanziert, die zur »Aktivierung, Integration in Erwerbstätigkeit oder sozialen und beschäftigungsbezogenen Stabilisierung von Alleinerziehenden beitragen« sollen. Voraussetzung ist der Bezug von Leistungen nach dem Zweiten Sozialgesetzbuch (SGB II). Grundlage dieser Projekte ist wieder die Legende, daß Erwerbslose nur ausreichend aktiviert und stabilisiert werden müssen, und schon fielen neue existenzsichernde Arbeitsplätze vom Himmel, die ohne Aufstockung durch ALG II ein gutes Leben ermöglichen würden. Nur mit dieser Logik der Individualisierung von Erwerbslosigkeit lassen sich Maßnahmen rechtfertigen, die in Wirklichkeit ein großangelegtes Beschäftigungsprogramm sind, das die Bildungsträger absichert und deren Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen davor bewahrt, ebenfalls in der Erwerbslosigkeit zu landen. Die Beteiligung der Grundsicherungsstellen führt dazu, daß Frauen mit diesem Instrument der »Frauenförderung« teilweise in den Niedriglohnsektor gedrängt werden, weil Grundsicherungsstellen unter Sparzwang stehen und sich deren Erfolg an den eingesparten Leistungen mißt. Nachhaltige Unabhängigkeit von Transferleistungen über eine notwendige Weiterbildung oder eine Einmündung in reguläre tariflich bezahlte Arbeit wären für die alleinerziehenden Haushalte die bessere Alternative, doch dafür müßten entsprechende Stellen geschaffen und mehr Geld in berufliche Weiterbildung investiert werden.
Billigjob Tagesmutter


»Working poor«: Leiharbeit reproduziert trotz aller gegenteiligen Beteuerungen Armut (Werbeplakat der Zeitarbeitsfirma Adecco)
Foto: ddp
Es ist schon ein Hohn, daß Instrumente zur Frauenförderung bei den Grundsicherungsstellen angesiedelt sind, denn deren vorrangige Aufgabe ist es, die Hilfsbedürftigkeit um jeden Preis zu senken. Da werden dann Frauen aus dem SGB-II-Regelkreis in prekäre Beschäftigung gedrängt. Für die Kinderbetreuung, die insbesondere bei verschuldeten Kommunen durch prekäre Selbständigkeit abgedeckt wird, werden weitere Frauen als Tagesmütter verpflichtet, die z.B. wie in Duisburg mit zwei bis fünf Euro brutto die Stunde für ein Kind entlohnt werden. Die »Höhe« der Entlohnung richtet sich nach der Qualifizierung der Tagesmutter: ungelernte erhalten zwei Euro, diejenigen, die einen pädagogischen Grundkurs absolviert haben, erhalten vier und das Fachpersonal immerhin satte fünf Euro brutto. Oft ist zu hören, daß die Mütter froh sein sollen über diese Chance; häufig äußern das allerdings diejenigen, die für solche Monatsverdienste nicht einmal einen Tag arbeiten würden.

In einigen anderen europäischen Ländern ist die Ausbildung zur Erzieherin ein Studium, in Deutschland dauert sie normalerweise drei Jahre. Hierzulande bevorzugt man in Notlagen mit dem pädagogischen Grundkurs von 160 Stunden die billigste Lösung, die übrigens ebenfalls mit ESF-Mitteln gefördert wird, für den hochsensiblen Bereich der Kindererziehung, anstatt die Aufgabe Einrichtungen anzuvertrauen, die mit tariflich bezahltem Fachpersonal ausgestattet sind und unter Fachaufsicht stehen.

Nicht nur unterfinanzierte Kommunen greifen zu dieser Sparlösung, auch finanziell gut ausgestattete nutzen diese Gelegenheit, wann immer sie sich bietet. ESF-Mittel sind ein guter Anreiz, um die klammen Kassen von Bildungsinstituten zu füllen, denn Investitionen in diesem Sektor zählen laut OECD-Ländervergleich in Deutschland offenbar nicht zu den vorrangigen Aufgaben.

Auch in anderen hochsensiblen Bereichen werden zunehmend 400-Euro-Kräfte verpflichtet wie z.B. in den Schulen zur Kinderbetreuung und bei der Schulaufgabenhilfe, bei PC-Kursen zur Vermittlung von Grundkenntnissen und vielem mehr. Auf diese Weise werden ehemals regulär bezahlte Stellen in großer Zahl abgebaut und durch prekäre ersetzt. Beim Preiswettbewerb der Supermärkte und in diversen Dienstleistungsbereichen scheinen die zahllosen Billigjobs fast unverzichtbar zu sein. Die hier geforderte »Flexibilität« wird laut DGB mit vier Milliarden Euro jährlich aus Steuergeldern aufgestockt, um »Arbeitgeber« zu subventionieren. Die Aufstockung von Armutslöhnen kostet die Steuerzahler seit 2005 zirka 50 Milliarden Euro.
Abwärtsspirale beenden

Wer Armut effektiv bekämpfen will, darf nicht auf Billigarbeitsplätze setzen, sondern muß dafür sorgen, daß die Löhne für ein gutes Leben ausreichen, auch bei den sogenannten Arbeitsmaßnahmen. Möglichkeiten zur Beendigung der Lohnabwärtsspirale sind: ein gesetzlicher Mindestlohn über zehn Euro, der auch für Arbeitsmaßnahmen gilt; eine radikale Arbeitszeitverkürzung; die Abschaffung der 400-Euro-Jobs oder zumindest eine Sozialversicherungspflicht ab dem ersten Euro sowie die Wiedereinführung der Arbeitslosen- und Rentenversicherung für alle.

Darüber hinaus ist ein gesellschaftliches Umdenken erforderlich, ein Bruch mit den Legenden über Erwerbslose: Das Hauptproblem ist das Fehlen von gut bezahlten Arbeitsplätzen, sekundäre Probleme ergeben sich in der Regel aus der permanenten Unterfinanzierung, dem psychischen Druck, der gesellschaftlichen Abwertung, Ausgrenzung und verkürzten Lebenserwartung durch Armut. Vor kurzem gab es wieder eine kleine Welle der Erschütterung wegen der Erkenntnis, daß, wer arm ist, früher sterben muß. Diese Einsicht ist nicht neu und wurde durch diverse Forschungsergebnisse lange vorher belegt. Zyniker sprechen von sozialverträglichem Ableben; denjenigen mit einem intakten sozialen Gewissen dürfte klar sein, daß jede Einsparung bei armen Menschen mit und ohne Job unterlassene Hilfeleistung ist, bei der das vorzeitige Ableben der Betroffenen billigend mit in Kauf genommen wird.

Nur selten wird erwähnt, daß Erwerbslose ein Höchstmaß an sozialer Kompetenz aufbringen müssen, um in diesem gesellschaftlichen Klima zu überleben und sich erfolgreich gegen die zahlreichen Zumutungen, Rechtsbeugungen und Willkürakte durch die Politik und die Grundsicherungsträger zur Wehr zu setzen. Die Sank tionspraxis gehört ebenfalls zum Unterdrückungscharakter des Hartz-IV-Systems, hier wird selbst der als Existenzminimum deklarierte Betrag noch gekürzt bis zum völligen Wegfall der Leistungen, damit sich auch das geradeste Rückgrat noch beugt und willens ist, alles zu tun, um nicht zu verhungern oder obdachlos und ohne Krankenversicherung auf der Straße zu landen.

Eine neue Studie der Tübinger Universität über den Zusammenhang der geringeren Körpergröße von Kindern Erwerbsloser mit deren Sozialstatus trägt ebenfalls zur Legendenbildung bei. Im Deutschen Ärzteblatt heißt es, daß »das mit einer Arbeitslosigkeit einhergehende geringere Einkommen eine weniger bedeutende Rolle zu spielen« scheint als der psychologische Streß sowie die Frustration der Eltern, die laut Arbeitsgruppe zur Vernachlässigung der Versorgung ihrer Kinder führen könnten.

Wen wundert es wirklich ernsthaft, daß beengte Wohnverhältnisse, dauernde Existenzangst, Mangelernährung, Hoffnungslosigkeit, Diskriminierung und repressive Strukturen Angst, Streß und Frustrationen erzeugen? Letztere sind allerdings lediglich die Symptome und nicht die Ursachen, die möglicherweise zur Unterversorgung von Kindern führen. Vielleicht sollte es besser heißen: »Wer kleingemacht wird, bekommt auch kleine Kinder.« Ob das Ergebnis der Studie dazu beiträgt, die soziale und psychische Lage der Betroffenen zu verbessern, entscheiden diejenigen, die die Definitionsmacht ausüben. Bisher jedoch geht der Trend in der Regel in eine Richtung, die das Geschäft mit der Erwerbslosigkeit nicht gefährdet und die Ursachen der Probleme Erwerbsloser in vermeintliche Defizite der Betroffenen verschiebt.

So wird eine Drohkulisse auch für diejenigen, die noch im Erwerbsleben stehen, geschaffen, damit sie stillhalten bei Arbeitsverdichtung und Lohnsenkungen. Selbst Gewerkschaften sind beteiligt an Verschlechterungen im Arbeitsleben: So ist es leider häufig der Fall, daß bei Tarifverhandlungen die Einstiegstarife für diejenigen, die draußen sind, teilweise für viele Jahre um zirka zehn bis 25 Prozent gesenkt werden, um denjenigen, die drinnen sind, ein bis zwei Prozent mehr zu sichern. Das ist nicht nur unsolidarisch, sondern widerspricht auch den eigenen Interessen der gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten. Die Grundvoraussetzung für eine gesellschaftliche Veränderung ist ein Wiederaufleben gegenseitiger Solidarität, sind gemeinsame Streiks für gute Arbeits- und Lebensbedingungen. Außerdem ist ein starkes Rückgrat der Mitglieder aller Gremien und Parlamente erforderlich, konsequent zu sein und Billigjobs jeglicher Ausprägung ihre Zustimmung zu verweigern, für die Finanzierung gut bezahlter Arbeitsplätze zu kämpfen und die Umverteilung von unten nach oben zu beenden.
Qualitatives Wachstum

Hans See fordert in Ossietzky 25/2 den Abschied von dem Gedanken an unendliches Wachstum in einer endlichen Welt, den Vorrang globalökologischer Gründe vor ökonomischen. Die Sicherung des Fortbestandes von Natur und Mensch soll durch qualitative menschliche Entwicklung erreicht werden. Der Wachstumswahn, der nur Kapitalinteressen dient, gefährdet und zerstört auf lange Sicht unsere Lebensgrundlagen nachhaltig. Wenn es uns allerdings gelingt, einen Konsens darüber herzustellen, daß Lebensqualität das vorrangige Ziel einer Gesellschaft ist, dann wird es auch einfacher, die Tätigkeiten in den Bereichen neu und höher zu bewerten, die zum großen Teil im Dienstleistungsbereich angesiedelt sind und überwiegend von Frauen verrichtet werden. Von einer Neubesinnung auf andere gesellschaftlichen Werte profitieren die ganze Gesellschaft und die Natur. Radikale Arbeitszeitverkürzung, gleiche Bezahlung für gleiche und gleichwertige Arbeit, schonender Umgang mit der Natur und gerechte Aufteilung der Familien- und Pflegearbeit sowie gleiche Möglichkeiten zu Weiterbildung und politischer Beteiligung für Frauen und Männer verändern eine Gesellschaft nachhaltig zum Positiven.

Ingrid Jost ist Mitglied im Landespräsidium der Partei Die Linke in Nordrhein-Westfalen

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#8

RE: Armut in Deutschland

in Gesellschaft 11.04.2012 19:39
von Lisadill • 744 Beiträge

Gestraft wie noch nie
Von Jörn Boewe

Mitwirken, aber mit Verstand: Bescheid ignorieren ist falsch, Widerspruch einlegen richtig. Oft hilft auch eine Klage vor dem Sozialgericht
Die Jobcenter haben 2011 so viele Zwangsmaßnahmen gegen Hartz-IV-Bezieher verhängt wie nie zuvor. Die Zahl der Sanktionen sei von 829375 im Vorjahr auf 912377 gestiegen, teilte die Bundesagentur für Arbeit am Mittwoch (BA) in Nürnberg mit. Tags zuvor hatte schon jemand die Zahlen an die Bild-Zeitung gegeben, die am Mittwoch mit einer reißerischen Geschichte über angeblich weit verbreitete »Tricksereien« von Langzeiterwerblosen herauskam.

Die Zahl der sanktionierten Empfänger ging den Angaben zufolge sogar zurück, es wurden jedoch wesentlich häufiger Strafen verhängt. Dabei kürzten die Behörden die Leistungen im Schnitt um 115,99 Euro. Etwa zwei Drittel aller Sanktionen wurden laut einem BA-Sprecher ausgesprochen, wenn jemand einer Vorladung nicht folgte. Weil die Jobcenter mehr Stellenangebote als früher hätten, könnten sie ihre »Kunden« auch häufiger einladen und letztlich mehr Zwangsmaßnahmen verhängen.

In 147435 Fällen wurden die Leistungen gekürzt, weil Erwerbslose gegen Pflichten ihrer »Eingliederungsvereinbarungen« verstießen. 138312 Mal wurden Sanktionen verhängt, weil die Betroffenen die Aufnahme oder Fortführung einer Arbeit, Ausbildung oder Weiterbildung verweigerten.

Spitzenreiter war Berlin: Hier wurde 98730mal abgestraft. 4,4 Prozent aller erwerbsfähigen Leistungsbezieher erhielten mindestens einen Sanktionsbescheid. Es folgt Rheinland-Pfalz mit 4,1 und Hamburg mit 3,8 Prozent. Am wenigsten sanktionierten die Jobcenter in Bremen (2,7 Prozent).

Als »unverantwortliche Stimmungsmache« kritisiert der Paritätische Wohlfahrtsverband die Berichterstattung der Bild-Zeitung. Faktisch seien Leistungsmißbrauch und Arbeitsverweigerung sogar deutlich zurückgegangen, erklärte der Verband. »Hier wird ohne jede empirische Grundlage auf unverantwortliche Art und Weise gegen Millionen Menschen gehetzt und ein Bild der schmarotzenden Massen geschürt, das mit der Realität nichts zu tun hat«, kritisierte Hauptgeschäftsführer Ulrich Schneider. Lediglich rund 0,5 Prozent aller erwerbsfähigen Leistungsbezieher seien auf Grund von Arbeitsverweigerung sanktioniert worden. »Die Zahlen belegen die große Disziplin und Leistungsbereitschaft der Menschen in Hartz IV. Die ganz breite Mehrheit tut alles, um aus ihrer Situation heraus und wieder in Arbeit zu kommen.«

Das »Erwerbslosenforum Deutschland« kritisierte den Anstieg der Strafen als Ausdruck von Hilf- und Konzeptlosigkeit der Jobcenter. Die Zahl sage »nichts darüber aus, ob die Sanktionen rechtlich haltbar waren«, erklärte Forumssprecher Martin Behrsing.

Gegen wie viele dieser Strafbescheide erfolgreich Widerspruch oder Sozialgerichtsverfahren geführt wird, ist nicht so leicht in Erfahrung zu bringen. Zwar würden Widersprüche gegen Verwaltungsakte insgesamt erfaßt, sagte ein Sprecher der BA-Regionaldirek tion Berlin-Brandenburg auf Nachfrage. Es gebe aber keine gesonderte Statistik darüber, wie oft sich »Kunden« speziell gegen Sanktionen wehrten. Insgesamt seien 2011 in Berlin 101599 Widersprüche eingelegt und 13569 Klagen gegen Jobcenterbescheide vor dem Sozialgericht erhoben worden. Von letzteren sei »etwa die Hälfte erfolgreich« gewesen.

In der BA-Zentrale in Nürnberg dagegen werden die Widerspruchs- und Klageverfahren sehr detailliert aufgelistet – allerdings ausschließlich aufgeschlüsselt nach Bundesländern, Monaten und differenzierten Erfassungsmerkmalen. Überblickszahlen waren gestern nachmittag nicht zu bekommen.

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#9

RE: Armut in Deutschland

in Gesellschaft 12.04.2012 19:21
von Lisadill • 744 Beiträge

Grundrecht auf Existenzsicherung
Unter dem Titel »Hartz-IV-Sanktionen sind verfassungswidrig« erklärte die sozialpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion Die Linke, Katja Kipping, am Mittwoch in einer Presseerklärung:


Die Sanktionen im Hartz-IV-System sind verfassungswidrig und müssen umgehend abgeschafft werden. Jede Leistungskürzung verletzt das Grundrecht des Betroffenen auf Existenzsicherung und gesellschaftliche Teilhabe. Im Jahr 2011 waren rund 42 Prozent der Widersprüche gegen Sanktionen und rund 52 Prozent der Klagen vor Sozialgerichten für die Betroffenen ganz oder zumindest teilweise erfolgreich. Es wird also auch massenhaft rechtswidrig sanktioniert. Außerdem zwingen Sanktionsandrohungen die Betroffenen, schlecht bezahlte Jobs anzunehmen und den Beschäftigten durch Lohndumping in den Rücken zu fallen. Die Linke tritt dafür ein, Hartz IV durch eine sanktionsfreie Mindestsicherung zu ersetzen, die wirklich die Existenz und gesellschaftliche Teilhabe sichert.

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#10

RE: Armut in Deutschland

in Gesellschaft 24.05.2012 19:36
von Lisadill • 744 Beiträge

Prost Armut!
Von Ralf Wurzbacher

Ein Glas auf die Senkung von Sozialhilfe: Gerhard Schröder, Carsten Maschmeyer, Goetz von Fromberg, Michael Frenzel, Sigmar Gabriel und Peter Hartz (v. l.) am 31. Januar 2004 in Hannover
Foto: ddp
Deutschland ist europäischer Spitzenreiter bei der Ausbreitung von Armut. Im Zeitraum zwischen 2004 und 2009 sind in keinem anderen EU-Staat die existentiellen Nöte bei Erwerbstätigen und Arbeitslosen rascher gewachsen als hierzulande. So lautet das Ergebnis einer Untersuchung der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung, über die in der aktuellen Ausgabe der Verbandszeitschrift Impuls berichtet wird. Für den Sozialwissenschaftler Eric Seils ist die Entwicklung ursächlich verbunden mit der Einführung der Hartz-IV-Gesetzgebung, die seinerzeit im Rahmen der »Agenda 2010« von der rot-grünen Regierung unter Gerhard Schröder (SPD) ins Werk gesetzt wurde. Seither hat sich vor allem die Lage der Erwerbslosen drastisch verschlechtert von ihnen lebten vor drei Jahren fast drei Viertel unterhalb der Armutsgrenze.

Im Rahmen seiner für das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der Böckler-Stiftung erstellten Studie »Beschäftigungswunder und Armut. Deutschland im internationalen Vergleich« hat Seils die neuesten verfügbaren Daten der EU-Statistikbehörde Eurostat ausgewertet. Im Jahr 2009 waren demnach 7,1 Prozent der Erwerbstätigen in der BRD von Arbeitsarmut betroffen. Obwohl in Lohn und Brot stehend, hatten sie weniger als 60 Prozent des mittleren bedarfsgewichteten Nettoeinkommens zur Verfügung. Der Wert markiert die gängige wissenschaftliche Armutsgrenze, die in Deutschland für einen Alleinstehenden bei 940 Euro monatlich liegt. 2004, dem letzten Jahr vor Inkrafttreten von Hartz IV, lag die Quote der sogenannten Working-Poor noch bei 4,9 Prozent.

Mit diesem Zuwachs belegt die Bundesrepublik gemeinsam mit Spanien den beschämenden ersten Rang unter den 27 EU-Staaten. Im Durchschnitt der Gemeinschaft legte die Armutsrate unter den Beschäftigten nur um 0,2 Prozent zu, in elf Staaten gingen die Quoten sogar zurück, angefangen bei Tschechien (– 0,5 Prozent) über Portugal (– 2 Prozent) bis hin zu Ungarn (- 3,5 Prozent). Der überdurchschnittliche Anstieg hat Deutschland nach Seils’ Berechnungen in kurzer Zeit ins europäische Mittelfeld in punkto Arbeitsarmut katapultiert. Anfang des neuen Jahrtausends sei das Problem hierzulande noch »vergleichsweise selten« gewesen.

Der Sozialforscher schreibt in seiner Untersuchung über »das deutsche Paradox«. Einerseits wären die Beschäftigtenzahlen seit 2004 kräftig angestiegen und die Erwerbslosigkeit deutlich gesunken. Dafür hätte die Bevölkerung aber »mit einem hohen sozialen Preis« bezahlen müssen. In noch größerem Ausmaß als die Erwerbstätigen, die in zunehmender Zahl trotz Arbeit in die Armut abrutschen, sind die Menschen ohne Job im Zuge der »Hartz-Reformen« in Not geraten. Nach Seils Befunden ist die Armutsquote unter den Erwerbslosen zwischen 2004 und 2009 um satte 29 Prozentpunkte hochgeschnellt, während es im EU-Mittel lediglich fünf Prozent waren. 2009 bezogen demnach 70 Prozent der Arbeitslosen in Deutschland ein Einkommen unterhalb der Armutsschwelle, 25 Prozent mehr als im EU-Durchschnitt.

Zugleich ist laut Seils hierzulande auch ein stattlicher Zuwachs an atypischer Beschäftigung in Gestalt von befristeten Jobs, Leiharbeit, Teilzeitstellen und Minijobs zu verzeichnen. Dieser Boom allein reiche aber als Erklärung nicht aus. »Vielmehr beobachten wir in Deutschland eine Prekarisierung auch von Beschäftigungsformen, welche dem Normalarbeitsverhältnis zugerechnet werden«, konstatiert der Forscher. »Arbeitsarmut hat gleichsam die Breite des Arbeitsmarktes erfaßt.«

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#11

RE: Armut in Deutschland

in Gesellschaft 25.05.2012 21:25
von Lisadill • 744 Beiträge

Die Jagd nach der Flasche
Die Tätigkeit ist anstrengend, die Konkurrenz groß. Immer mehr Menschen versuchen, ihr geringes Einkommen mit Pfandgut aufzubessern, das andere liegenlassen
Von Simon Loidl

An schönen Tagen steigt die Ausbeute, aber auch die Konkurrenz ist dann größer

Nennen wir ihn Ioan. Seinen Namen möchte er nicht in der Zeitung lesen. Jeden Tag geht der untersetzte, knapp 50 Jahre alte Mann seine Strecke am Ufer des Landwehrkanals in Berlin mehrere Male ab. Er ist auf der Suche nach leeren Pfandflaschen. Die schönen Frühlingstage sorgen dafür, daß der Einkaufstrolley und die extragroße Einkaufstüte, die Ioan dabei hat, sich rasch füllen. Wenn die Sonne scheint, zieht es Hunderte, Tausende auf die Grünflächen und in die Parks der Hauptstadt.

Ioan hat keine Zeit, sich an den wärmenden Strahlen zu erfreuen. Je schöner das Wetter, desto mehr hat er zu tun. Bereits am Nachmittag türmt sich der Abfall neben den Mülleimern, dazwischen immer wieder kostbare Pfandflaschen. Viele werfen die Flaschen nicht ein, sondern stellen sie neben oder auf die Abfallbehälter. Ioan kennt diese alle, klappert sie ab. Dutzende. Immer wieder. Die Arbeit entlang des eingezäunten Ufers zwischen Prinzenstraße und Admiralsbrücke im Stadtteil Kreuzberg ist beschwerlich. Hin und wieder muß Ioan den schwerbeladenen Trolley über die Absperrung hieven, um zu den Flaschen zu gelangen, welche die Leute achtlos neben sich in die Wiese legen. Auch leere Flaschen können schwer sein, außerdem sind die Räder des Trolleys viel zu klein für einen Transport auf nicht-asphaltiertem Untergrund. Jedes Mal, wenn er sein Wägelchen über eine kleine Unebenheit zieht, kippt dieses beinahe um.

Eine Gruppe junger Leute sitzt am Ufer des Kanals am Boden, neben ihnen zahlreiche Flaschen. Ein kurzer Blick Ioans genügt, höchstens muß er fragend auf die Flaschen deuten. In der Regel gestattet ihm jeder, das Leergut einzusammeln, denn auch wenn manche Flaschen ganze 25 Cent wert sind, ist es den meisten doch zu mühsam, diese wieder mitzunehmen. Wer teure Drinks in der Kneipe gespart hat, kann schon mal auf ein paar Euro verzichten. Und irgendwie fühlt man sich auch noch gut dabei, jemandem seine Pfandflaschen zu überlassen. Beim Saufen anderen helfen und sich dabei auch noch die Schlepperei ersparen.

Der Einkaufstrolley ist überfüllt, der Plastiksack platzt schon fast, aber die paar Flaschen muß Ioan noch mitnehmen. Er bugsiert den klirrenden Wagen rund um die Feiernden, ein kleiner Erdhügel erschwert das Manöver. Der Trolley kippt um, es klirrt. Ioan wirft einen Blick in den Wagen, eine der Flaschen hat den Unfall nicht überstanden. Er richtet den Trolley wieder auf und geht weiter. Kurz vor der Admiralsbrücke hebt er seine Last über den Zaun. Dann stellt er Trolley und Sack neben einem Verkehrsschild ab und dreht eine Runde auf der Brücke. Die Ausbeute ist jedoch gering. Vor zehn Minuten war Konkurrenz da, Ioan findet nur zwei leere Flaschen. Zurück bei seinem Trolley, begutachtet er erst mal den Schaden. Vorsichtig zieht er die zerborstene Flasche zwischen den anderen hervor und trägt sie zu der Altglastonne, die von der Stadtreinigung eigens für die zahlreichen Freilufttrinker aufgestellt wurde, die sich hier bis zum nächsten Herbst täglich einfinden werden. Ioan hebt den Deckel der Tonne und blickt kurz hinein. Nichts zu holen. Er wirft die Scherben seiner Bierflasche hinein und kehrt zu seinem Wagen zurück.

»Keine Arbeit«, erklärt er fast entschuldigend den Grund für seine Tätigkeit. Er spricht nur gebrochen Deutsch. Aus Bulgarien sei er, schon seit einigen Jahren in Berlin, aber es ist schwierig. Stundenlang sammelt er jeden Tag, es schaut nur wenig dabei raus. Er deutet auf den prall gefüllten Trolley: »Zwei oder drei Euro, nicht viel.« Aber irgendwie muß er Essen, Trinken, Zigaretten ja bezahlen. »Was soll ich sonst machen?« Er scheint sich zu freuen, daß ihn jemand anspricht. Ein paar freundliche Worte, ein bißchen Plaudern erleichtern die anstrengendste Tätigkeit. Aber Ioan wirkt auch unruhig, er will offensichtlich nicht zu lange aufgehalten werden. Beim Flaschensammeln muß man flink sein, die Konkurrenz ist groß.
Tips aus dem Internet


Der Einkaufstrolley ist für viele Flaschensammler wichtiger Bestandteil der Ausstattung
Foto: Simon Loidl
Immer mehr Menschen versuchen, ihr kleines Einkommen mit der Jagd nach Pfandgut aufzubessern. Rentner, Hartz-IV-Bezieher – Hunderte sollen es Medien­berichten zufolge sein, die sich jeden Tag in Berlin auf die Suche nach dem wertvollen Glas machen, genaue Angaben dazu gibt es aber nicht. Im Internet findet man Tips fürs »dezente Flaschensammeln«. Dabei geht es nicht nur darum, aus Scham möglichst unauffällig unterwegs zu sein. Auch andere Sammler können für Neulinge zum Problem werden. So rät die Seite helpster.de: »Bevor Sie sammeln, sollten Sie zunächst die Gegend dahingehend prüfen, ob dort schon andere, vielleicht sich selbst als ›Besitzer der Sammelstelle‹ sehende Menschen unterwegs sind. Es könnte zu (tätlichen) Auseinandersetzungen kommen, wenn Sie dort auch sammeln.« Hat man dann seine eigenen Orte gefunden, gilt erneut das Konkurrenzprinzip als oberstes Gebot: »Merken Sie sich gute Sammelplätze und erzählen Sie niemandem davon!«

Hält man sich an einem sonnigen Tag in einem Berliner Park oder am Ufer eines Spreekanals auf, dann wird schnell klar, was damit gemeint ist. Je schöner das Wetter, desto mehr Getränke werden zwar im Freien geleert, gleichzeitig sind aber auch um so mehr Menschen unterwegs, um ein paar Cent zusammenzusuchen. Im Abstand weniger Minuten gehen Männer und Frauen jeden Alters auf der Suche nach Pfandgut zwischen den Sonnenbadenden durch. Kaum eine leere Flasche ist zu sehen. Solche, die dennoch herumstehen und -liegen, sind in der Regel Einwegflaschen, die von geübten Sammlern sofort als solche erkannt werden.

Manche versuchen, das Konkurrenzprinzip durch gemeinsames Sammeln zu durchbrechen. Die erbeuteten Flaschen werden zu einem Treffpunkt gebracht, wo eine Person diese bewacht. Das hat vor allem den Vorteil, daß nicht jedes Mal, wenn eine Tasche voll ist, die nächste Rückgabestelle aufgesucht werden muß. Vor allem an Sonntagen, wenn die meisten Supermärkte geschlossen haben, ist dies ein nicht zu unterschätzender logistischer Vorteil. Darüber hinaus kann durch kollektives Sammeln ein relativ großes Gebiet überblickt und abgesucht werden.
Kaum was zu holen


Die Suche nach Pfandgut ist anstrengend, zeitaufwendig und verlangt ständige Aufmerksamkeit
Foto: Simon Loidl
Weitaus gemächlicher geht Gerd die Sache an. Gerd ist an allen schönen Tagen in der Gegend rund ums Brandenburger Tor anzutreffen. Dort fährt er durch die Touristenmassen und sammelt deren Leergut in den beiden Metallkörben, die an seinem Rollstuhl angebracht sind. Zwei Stöcke hat er auch noch befestigt, zwischen diesen hängt ein Schild über Gerds Kopf, sodaß man schon von weitem sieht, daß hier die »Erste mobile Flaschenannahme« unterwegs ist. Er mache es nicht vorrangig wegen des Geldes, sagt Gerd. Da sei ohnehin kaum was zu holen. Es ginge ihm vor allem darum, unterwegs zu sein, »öfter aus dem Altersheim rauszukommen«. Außerdem plaudert er gern mit Leuten, und dazu hat er häufig Gelegenheit, denn aufgrund seines auffälligen Auftretens wird er auch von vielen angesprochen, die gar keine Flasche abzugeben haben. Mit Journalisten spricht er allerdings nicht so gern, da habe er bereits schlechte Erfahrungen gemacht. So sei er in einem Artikel einer Berliner Zeitung mit der Aussage zitiert worden, daß er an besonders guten Tagen 18 Euro an Pfand zusammenbekomme. Daraufhin seien in seinem Heim einige neidisch gewesen, weil sie meinten, er schwimme geradezu im Geld.

Für die meisten Sammler allerdings sind die wenigen Euro, die sie an den Rückgabestellen in den Supermärkten zusammenkratzen, ein fixer Bestandteil ihres Einkommens. Die Ausweitung des Pfandsystems auf Dosen und PET-Flaschen seit 2003 hat zu einer Professionalisierung der Tätigkeit geführt. Seit einigen Jahren gibt es sogar ein Onlinesystem, wo Sammler ihre Telefonnummer hinterlassen können. Wer seine Flaschen nicht selbst in den Supermarkt zurückbringen will, kann auf pfandgeben.de einen Sammler suchen, der die wertvollen Behältnisse von zu Hause abholt. Damit beschränkt sich das potentielle Sammelgebiet nicht mehr nur auf Parks oder Brennpunkte des Nachtlebens, wo besonders viele Getränke konsumiert werden.

Heidi ist eine von vielen, die ihre Telefonnummer auf der Internetplattform hinterlassen haben. Seit einigen Monaten hat sie so ihre Jagd nach dem Pfandgut erweitert, und sie ist zufrieden. Zwar rufe nur ungefähr einmal pro Woche jemand bei ihr an, der Flaschen loswerden möchte, aber zumindest hat sie bei ihren Hausbesuchen schon viele nette Leute kennengelernt. Meistens seien es solche, die endlich mal wieder ihre Wohnung aufräumten: »Da muß es dann auch ganz schnell gehen mit dem Abholen.« Sie kommt auch schon für wenige Flaschen vorbei. Andere telefonische Sammler haben eine Mindestanzahl festgelegt. Bine etwa, deren Telefonnummer ebenfalls seit einigen Monaten auf pfandgeben.de zu finden ist, macht sich erst ab 30 Flaschen auf den Weg in fremde Wohnungen. »Für weniger würde sich der Weg einfach nicht lohnen«, sagt sie. Sehr oft ist die Hobbysammlerin ohnehin nicht unterwegs. Ungefähr einmal im Monat rufe jemand an, zeigt sie sich etwas enttäuscht von dem Onlinesystem. Angemeldet hat sie sich, um etwas zusätzliches Geld zu verdienen. Sie will ihren Eltern eine Reise schenken.
Besseres Image


Subkulturelle Romantisierung des Flaschensammelns: Wandmalerei in Berlin-Kreuzberg
Foto: Simon Loidl
Mit Projekten wie pfandgeben.de weitet sich das Spektrum an Flaschensammlern aus. Das Sammeln gewinnt an positivem Image, wird zu einer normalen Tätigkeit, und die Hemmschwelle, mit Pfandgut etwas Geld zu verdienen, sinkt. Dazu trägt auch eine gewisse subkulturelle Romantisierung dieser Überlebensstrategie in der Hartz-IV-Ära bei. Flaschensammler werden häufig nicht mehr als Ausdruck des Versagens sozialer Sicherungssysteme gesehen, sondern als integraler Teil der Ausgeh- und Trinkkultur.

Unter einigen Straßenschildern in Berlin wurden kürzlich Kästen angebracht, in denen leere Flaschen abgestellt werden konnten. Als Kunstprojekt gestartet, wurden die Behälter jedoch vor allem als Papierkörbe benutzt und sind mittlerweile auch wieder verschwunden. In der aktuellen Ausgabe des Berliner Magazins Zitty wiederum taucht der »Flaschensammler« als eines von zwei Dutzend ironisch überzeichneten »liebsten Feindbildern« der Haupstadtbewohner auf. Er etabliert sich als großstädtische Klischeefigur und identitäre Projektionsfläche zwischen »Neukölln-Hipster«, »Touristenhasser« oder »Technonachbar«. Diese Neuausrichtung des Sammlerimages ist aber noch nicht abgeschlossen, die Beschreibung schwankt zwischen Vereinnahmung und Abscheu. Der Autor kann sich nicht entscheiden, ob Flaschensammler schon Teil des urbanen Ensembles oder einfach Objekt seines Sozialhasses sind. Zwar dürfe man über den Sammler »nichts Böses sagen«, da er »denselben Artenschutz« wie Verkäufer von Obdachlosenzeitungen genieße, »dennoch nervt« er. Denn auch wenn »es diese Menschen nicht besonders gut haben im Leben« und obwohl sie sogar »eine nützliche Funk tion« erfüllten, würde man doch lieber »in Ruhe sein Bier trinken«, als »fast nach jedem Schluck« belästigt zu werden.

Für Menschen wie Ioan ändern derartige Zuschreibungen wenig an ihrem Alltag. Für sie ist das Sammeln schlicht ihr Job, der viel zu wenig einbringt und manchmal auch gefährlich ist. Im vergangenen Herbst etwa fiel ein Mann bei dem Versuch, ein paar Flaschen aus dem Landwehrkanal zu fischen, ins Wasser und ertrank.

Vor allem aber ist es eine anstrengende Arbeit. Solange Ioan im Freien unterwegs ist, gibt es für ihn kaum Zeit zum Ausruhen. Sein geschultes Auge ist ständig auf der Suche nach leeren Flaschen. Selbst während einer kurzen Verschnaufpause blickt er immer wieder auf diejenigen, die es sich auf dem Geländer der Admiralsbrücke, auf dem Asphalt oder am Ufer bequem gemacht haben und die letzten Strahlen der untergehenden Sonne genießen.

Lange bleibt Ioan aber nicht stehen. Nach wenigen Minuten bereits greift er wieder zu seiner Einkaufstüte, kippt den Trolley in Fahrposition und macht sich auf, dieselbe Strecke zurückzugehen, auf der er gekommen ist. Er klettert wieder über den Zaun und schiebt sein Wägelchen über das Gras. Bei der Gruppe junger Leute, die ihn bereits kennen, sind schon wieder ein paar Flaschen leer geworden. Ioan sammelt sie auf, auch wenn er kaum mehr Platz für diese hat. Die paar müssen noch mit.

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#12

RE: Armut in Deutschland

in Gesellschaft 26.06.2012 09:52
von Lisadill • 744 Beiträge

mich macht der aufkeimende Nationalismus während der "Fussballkämpferei"wütend...ein Grund für dieses nationale Zusammenrücken kann dies sein:

Zum Leben zu wenig


Von Claudia Wangerin

Der wirtschaftliche Aufschwung geht an immer mehr Menschen vorbei: Immer weniger Erwerbstätige können von ihrer Arbeit leben, immer mehr benötigen einen Zuschuß vom Staat. Wie eine aktuelle Studie des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) belegt, stieg die Zahl der Haushalte mit mindestens einem erwerbstätigen Hartz-IV-Bezieher von 2007 bis 2010 in den ostdeutschen Bundesländern um elf und in den westdeutschen um 14 Prozent. In den alten Ländern waren Ende 2011 durchschnittlich fast 29 Prozent der Hartz-IV-Bezieher zwischen 15 und 64 Jahren erwerbstätig und nahezu ein Drittel in den neuen Ländern. In Brandenburg, Sachsen und Thüringen stellen die arbeitenden Hartz-IV-Bezieher sogar mehr als ein Drittel aller erwerbsfähigen Hilfeempfänger. Lediglich in Mecklenburg-Vorpommern sank ihr Anteil minimal – um 0,4 Prozent.

Berlin entwickelte sich mit einem Anstieg um ein Viertel zur Hauptstadt der »Aufstocker«. In Nordrhein-Westfalen kamen 18,5 Prozent hinzu, in Bremen 16,5 Prozent, in Hessen 15,3 und in Hamburg 15,2 Prozent.

»Hartz IV ist keinesfalls nur ein Fürsorgesystem für hilfebedürftige Arbeitslose, sondern in starkem Maße auch für Erwerbstätige, die von ihrem Arbeitseinkommen allein nicht leben können«, so DGB-Arbeitsmarktexperte Dr. Wilhelm Adamy, der die Studie erarbeitet hat. Laut Adamy arbeiteten 331000 Aufstocker im Jahr 2010 in Vollzeit. Andererseits vergebe zum Beispiel der Einzelhandel vielerorts nur noch Teilzeitstellen, die zudem oft befristet seien. Auch das trägt laut DGB dazu bei, daß es immer mehr Aufstocker gibt.

Der Arbeitsmarktökonom Hilmar Schneider vom Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit (IZA) äußerte Unverständnis dafür, daß viele Vollzeitbeschäftigte auf Hartz IV angewiesen sind. Eigentlich müßten die Menschen aus dem Hartz-IV-System herauskommen, wenn sie einen Job finden, »es sei denn, es werden sittenwidrige Löhne gezahlt«, zitierten mehrere Medien Schneider. Die hohe Zahl der Vollzeitaufstocker könne ein Hinweis darauf sein, daß die Jobcenter immer mehr Druck auf Hartz-IV-Bezieher ausüben, jede noch so schlecht bezahlte Arbeit anzunehmen.

Mit über sechs Milliarden Euro standen die Steuerzahler laut DGB im Jahr 2010 für das Lohndumping gerade: Allein zur Sicherung des Existenzminimums von Haushalten mit sozialversichert Beschäftigten mußten rund vier Milliarden Euro an aufstockenden Leistungen aus Steuermitteln gezahlt werden; für Leistungen für Unterkunft und Heizung gut 2,2 Milliarden.

»Mit einem Mindestlohn von 8,50 Euro könnten insbesondere die Kommunen mit ausgeprägtem Niedriglohnsektor entlastet werden«, rät DGB-Arbeitsmarktexperte Adamy. »Die Bundesregierung begünstigt mit ihrer Politik Arbeitgeber, die Dumpinglöhne zahlen und Hartz IV als Kombilohnmodell mißbrauchen«, kritisierte die arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag, Sabine Zimmermann, am Montag. »CDU/CSU und FDP stellen sich damit gegen die Bevölkerungsmehrheit, die einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn will.« Ohne einen arbeitsmarktpolitischen Kurswechsel, der ein Verbot von Leiharbeit und die Umwandlung von Minijobs in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse beinhalte, »werden wir weiter mit diesem Problem zu kämpfen haben«, so Zimmermann. Das sei bitter für den einzelnen und teuer für die Gesellschaft.
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zuletzt bearbeitet 26.06.2012 09:54 | nach oben springen

#13

RE: Armut in Deutschland

in Gesellschaft 29.06.2012 09:56
von Lisadill • 744 Beiträge

Gericht: Lebensmittelgutscheine reichen

Sozialrichter in Karlsruhe erklärten 100prozentige Streichung von Hartz-IV-Bezügen für zulässig
Von Susan Bonath

Ein schlecht bezahlter Job bei einer Zeitarbeitsfirma mit einem vermutlich teuren Anfahrtsweg von über einer Stunde? Egal, Hartz-IV-Bezieher müssen auch ein derart mieses Angebot annehmen. Tun sie es nicht, oder verlangen sie gar noch Bedenkzeit, darf das Jobcenter ihnen die Leistung kürzen, im Wiederholungsfall um 100 Prozent. Das entschied das Karlsruher Sozialgericht in einem Urteil von Anfang Juni, wie das von der ra-online GmbH betriebene Internetportal www.kostenlose-urteile.de jetzt berichtete.

Geklagt hatte den Angaben zufolge ein 52jähriger, der seit 2005 Grundsicherungsleistungen bezieht. Das zuständige Jobcenter hatte ihm die Leistungen bereits von April bis Juni 2011 verweigert, weil er »seiner Pflicht zum ausreichenden Nachweis von Eigenbemühungen zum Erlangen von Arbeit« nicht nachgekommen sei. Daraufhin stellte ihm die Behörde eine Eingliederungsvereinbarung per Verwaltungsakt zu, womit sie ihn verpflichtete, monatlich Nachweise für seine Arbeitssuche vorzulegen. Gleichzeitig schlug ihm das Amt eine Vollzeitbeschäftigung als Tischler bei einer Zeitarbeitsfirma vor. Als sich der Kläger dort vorstellte, habe er nach eigenen Angaben um Bedenkzeit gebeten, weil die Arbeitsstelle mit öffentlichen Verkehrsmitteln nur schwer erreichbar sei. Zudem habe er die Ergebnisse weiterer Bewerbungen abwarten wollen. Das wertete das Jobcenter als erneuten »Pflichtverstoß« und strich ihm auch für Mai bis Juli 2011 die Leistungen komplett. Als »Ausgleich« habe ihm die Behörde Lebensmittelgutscheine gewährt.

Die Karlsruher Sozialrichter befanden diese Praxis für richtig und lehnten den Antrag des Klägers auf vorläufigen Rechtsschutz ab. Er habe damit ein auf sofortigen Arbeitsbeginn ausgerichtetes Angebot ausgeschlagen, ohne einen wichtigen Grund nachzuweisen. Von erschwerter Erreichbarkeit der Stelle könne man nicht sprechen, hieß es. Laut Fahrplanauskunft betrage die Anreisezeit von der Wohnung des Klägers bis zum Arbeitsplatz »lediglich« zwischen 60 und 69 Minuten. Zumutbar sei eine tägliche Pendelzeit von zweieinhalb Stunden, führten die Richter aus.

In der weiteren Einlassung des Klägers, er habe zunächst die Ergebnisse weiterer Bewerbungen abwarten wollen, sah das Gericht ebenfalls keinen Grund, ein anderes Urteil zu fällen. Erstens sei »der Hilfebedürftige« bereits langzeitarbeitslos und müsse »alles unternehmen, diesen Zustand zu beenden«. Zum anderen stehe es ihm frei, ein günstigeres Stellenangebot anzunehmen. Dafür könne er schließlich jederzeit ein bis dahin angenommenes Beschäftigungsverhältnis kündigen. Das Existenzminimum sahen die Richter nicht gefährdet: Die gewährten Lebensmittelgutscheine seien gesetzlich statthaft und hätten den »notwendigen Bedarf« des Klägers vorübergehend gedeckt.

Bereits im Oktober 2009 hatte dasselbe Gericht die Sanktionierung einer Alleinerziehenden für zulässig erklärt. Ein Jobcenter hatte einer damals 23jährigen mit fünfjähriger Tochter die Regelleistung einschließlich des Mehrbedarfes für Alleinerziehende »nach wiederholter Pflichtverletzung« um 100 Prozent gekürzt. Grund war eine verspätet vorgelegte Bescheinigung über Arbeitsunfähigkeit bei einem Bildungsträger, der ihr daraufhin die Maßnahme gekündigt habe. Auch die Mutter und ihre Tochter mußten sich danach mit Lebensmittelgutscheinen über Wasser halten.

Erst am 26. April dieses Jahres hatten die Bundestagsabgeordneten von CDU und FDP einen Antrag der Linkspartei auf Abschaffung der Sanktionen abgelehnt. Von den Grünen hatte sich nur Hans-Christian Ströbele den Linken angeschlossen, der Rest enthielt sich der Stimme. Kurz zuvor hatte ein Bericht der Bundesagentur für Arbeit ergeben, daß die Jobcenter im Jahr 2011 insgesamt 912377 Sanktionen verhängt hatten – so viele wie nie zuvor.

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#14

RE: Armut in Deutschland

in Gesellschaft 12.08.2012 19:35
von Lisadill • 744 Beiträge

/ Seite 5Inhalt

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Notfallstatistik gefordert
Bundesregierung ignoriert zunehmende Wohnungsnot. Obdachlosenhilfe kritisiert Versuch, Betroffene in die Psychoecke zu schieben
Von Christian Linde

Wohnungslose warten in Berlin vor dem Eingang zur Notübernachtung der Stadtmission am Hauptbahnhof, Februar 2012
Foto: dapd
Wir wissen, wieviel Hühner in Deutschland im vergangenen Jahr herumgelaufen sind, welcher Sportschuh am häufigsten getragen wurde und wieviel Flaschen Wein geleert worden sind. Wie viele Menschen ohne Dach über dem Kopf leben müssen, wissen wir nicht. Das beklagt die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W). »Die Bundesregierung verweigert sich der Einführung einer bundesweiten Wohnungsnotfallstatistik, die Umfang und Entwicklung der Räumungsklagen und Obdachlosigkeit abbilden soll«, kritisiert die Organisation, die ersatzweise lediglich Schätzungen zum Ausmaß der Wohnungsnot veröffentlicht. Demnach sei die Zahl der Betroffenen seit 2008 von 227000 auf rund 248000 gestiegen. Als Ursache nennt die BAGW die verstärkte Nachfrage bei Quartieren vor allem im preisgünstigen Segment. Um so notwendiger sei die Erstellung einer Wohnungsnotfallstatistik, die von der gesamten Fachwelt seit mehr als dreißig Jahren verlangt werde.

Der Dachverband der Wohnungslosenhilfe reagiert mit der Forderung auf die Antwort der Bundesregierung vom 31. Juli auf eine kleine Anfrage der Oppositionsfraktionen im Bundestag. Darin bezweifelt die Koalition aus CDU und FDP nicht nur die Notwendigkeit einer solchen Erhebung, sondern auch, daß die Zahlen tatsächlich ermittelt werden können. Lediglich die Erfassung der ordnungs- und sozialhilferechtlich untergebrachten sowie der wegen Mietrückständen räumungsbeklagten Haushalte sei in einer amtlichen Statistik vertretbar und praktikabel. Nicht realisierbar sei dagegen die Auflistung der nicht institutionell untergebrachten Personen, der unmittelbar von Wohnungslosigkeit Bedrohten sowie der Menschen in »unzumutbaren« Wohnverhältnissen. »Konsequenterweise ist daher von der Einführung einer bundesweiten Wohnungslosenstatistik abgesehen worden«, unterstreicht die Regierung ihre Haltung. Der Dachverband verweist dagegen auf eine bereits 1998 im Auftrag der Regierung unter Helmut Kohl vom Bundesamt für Statistik vorgelegte »Machbarkeitsstudie«, die die Möglichkeit einer umfänglichen statistischen Erfassung festgestellt habe. Zudem zeige die seit Ende 2011 existierende Wohnungsnotfallstatistik des Landes Nordrhein-Westfalen dem Bund den Weg.

Die Auffassung der Bundesregierung, daß Wohnungslosigkeit mittlerweile nicht mehr auf einem Fehlbestand an Wohnungen, sondern in der Regel auf einer Reihe anderer sozialer bzw. psychosozialer Ursachen beruhe, wies die BAG W entschieden zurück. »Die Entwicklung am Wohnungsmarkt, schnell steigende Preise für Mietwohnungen im Zusammenwirken mit zurückbleibender Mietzahlungsfähigkeit durch Zunahme der Armut, ist eindeutig der entscheidende Treiber für zunehmende Wohnungslosigkeit und Wohnungsnot«, so Thomas Specht, BAG-W-Geschäftsführer. Wer Obdachlose in die »Psychokiste« entsorgen wolle, der brauche offenbar eine Ablenkung von den jahrelangen Versäumnissen in der Wohnungspolitik. Gelten lassen will Specht auch nicht die mit Hinweis auf die Föderalismusreform veränderte Zuständigkeit seitens der Länder. »Ich fordere Bundesbauminister Ramsauer auf, sich mit uns zusammenzusetzen und gemeinsam mit allen Bundesländern den Weg zu einer überfälligen Reform zu gehen, die den Staat wenig kostet, aber hilft, zukünftige Kosten der Wohnungsnot einzusparen«, so Thomas Specht.

Der Deutsche Mieterbund geht von einem Defizit bis zum Jahr 2017 von über 800000 Mietwohnungen aus. Dies werde sich insbesondere in Ballungszentren, Groß- und Universitätsstädten zeigen.

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#15

RE: Armut in Deutschland

in Gesellschaft 20.09.2012 21:16
von Lisadill • 744 Beiträge

Abbau solidarischer Lösungen
Der Publizist und SPD-Politiker Albrecht Müller veröffentlichte am Montag auf der von ihm mit herausgegebenen Internetseite www.nachdenkseiten.de den Text eines Vortrags zum Thema »Meinungsmache – Warum und wie der Sozialstaat ins Gerede kam«. Der Text ist auch in einem Buch enthalten, das kürzlich erschien –Frank Bsirske/Andrea Kocsis/Franz Treml (Hrsg.): Gegen den schleichenden Abbau des Sozialstaats. Konsequenzen – Alternativen – Perspektiven. VSA Verlag, Hamburg 2012, 176 Seiten, 14,80 Euro

Die Frage, warum das so gekommen ist (das Infragestellen des Sozialstaates – d. Red.), ist relativ einfach zu beantworten. Am Abbau solidarischer Lösungen wird kräftig verdient. Da gibt es z. B. den Carsten Maschmeyer, (...) Maschmeyer hat 2005 gesagt, die Finanzdienstleistungsbranche stehe nach der Verlagerung von der staatlichen zur privaten Altersvorsorge vor dem größten Boom, den sie je erlebt hat. Es sei so, als wenn wir – die Finanzbranche – auf einer Ölquelle sitzen, sie ist angebohrt, sie ist riesig groß und sie wird sprudeln. (...)

Sachliche Gründe für den Abschied vom Sozialstaat gab und gibt es nicht. Es gab Behauptungen, und es gab Beschwerden en masse, aber Fakten, wo sind denn die? Die solidarische Vorsorge für das Alter z. B. ist nicht nur humaner, sozialer und weniger riskant, sie ist auch effizienter, das heißt preiswerter zu organisieren. (…)

Und dann begann auch schon in den 70er Jahren die Kampagne gegen aktive Beschäftigungspolitik, wohl wissend, daß ein gutes und zahlreiches Angebot an Arbeitsplätzen die Arbeitnehmer in die Lage versetzt, auch einmal Nein sagen zu können. Und daß deshalb die Beschäftigungspolitik, die Sorge um viele Arbeitsplätze, also die Sorge um Alternativen, ein entscheidendes Mittel ist, um die Marktmacht der Arbeitnehmer und damit ihren Anteil am Volkseinkommen zu erhöhen. Anfang der 70er Jahre erreichten die Arbeitnehmer einen Anteil am Volkseinkommen von fast 72 Prozent, 2008 lag diese sogenannte Lohnquote bei ungefähr 62 Prozent . (...)

Daß so etwas wie konjunkturelle Schwächen und die damit verbundene Arbeitslosigkeit bewußt geplant sein könnten, das klingt nach Verschwörungstheorie. Daß bewußt eine Reservearmee von Arbeitslosen geschaffen wird, klingt abenteuerlich. Aber es ist so. Es gibt einen britischen Notenbanker, Sir Alan Budd, ein politischer Freund von Frau Thatcher, der von der Idee, daß die Erhöhung der Arbeitslosigkeit mehr als wünschenswert und gewollt war, um die Arbeiterklasse insgesamt zu schwächen, berichtete. Die Wiederherstellung der industriellen Reservearmee erlaube es den Kapitalisten, fortan hohe Profite zu realisieren. (…) Daß er dies offen sagt, ist ein wohltuender Beitrag zur Aufklärung. Das Zitat ergänzt (…) eine bemerkenswerte Einlassung des ehemaligen Bundeskanzlers in Davos. Bundeskanzler Gerhard Schröder am 28. Januar 2005 in Davos: »Wir müssen und wir haben unseren Arbeitsmarkt liberalisiert. Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt.«


Vollständig im Internet: www.nachdenkseiten.de

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#16

RE: Armut in Deutschland

in Gesellschaft 21.09.2012 12:28
von Jonas • 615 Beiträge

> Die solidarische Vorsorge für das Alter z. B. ist nicht nur humaner, sozialer und weniger riskant, sie ist auch effizienter, das heißt preiswerter zu organisieren. (…)

Das kann man laut sagen. Ich hab mir irgendwann auch so eine Zusatzversicherung angefangen, man will ja vorsorgen ...: die kann ich in der Pfeife rauchen, wenn das ganze virtuelle Geld irgendwann via Inflation oder Währungsreform abgefackelt wird (dass das Geld virtuell ist: siehe --> Earth Overshoot Day ). Und bei der solidarischen Versicherung müssen keine Versicherungsleute mit durchgefüttert werden, die sind schlicht überflüssig und können was volkswirtschaftlich Sinnvolles arbeiten. Letztlich bedeutet es dasselbe: egal ob durch direkte Einzahlungen oder Ansparen: es ist die zukünftige Generation, die die realen Dinge produzieren muss, die dann von den Rentnern verbraucht werden. Nur dass bei der gesetzlichen Rentenversicherung alle daran teilhaben und nicht nur die, die sparen oder gar fette Aktiendepots aufbauen können. Vom (Bevölkerungs-)Wachstum abhängig sind beide: bei der direkten Einzahlung gibt's weniger wenn weniger Verdiener/Wirtschaftsgrösse da sind, aber auch beim Angesparten, denn das Geld der Zukunft ist nur soviel wert, wie man dann dafür (globalisiert) kaufen kann, insofern hat die private Versicherung da auch keinen Vorteil ("lassen Sie ihr Geld für sich arbeiten" ist Unsinn: es arbeiten immer Menschen), sondern nur ein Inflations- und Crash-Risiko, das bei der solidarischen Versicherung nicht besteht: die Geldscheine können weg sein, die Menschen sind immer noch da ...


zuletzt bearbeitet 21.09.2012 12:29 | nach oben springen

#17

RE: Armut in Deutschland

in Gesellschaft 21.10.2012 09:29
von Lisadill • 744 Beiträge

Auf Kosten der Erwerbslosen

Agentur für Arbeit klagt über Vorurteile gegen Hartz-IV-Bezieher und setzt mit Kampagne »Ich bin gut« dagegen. Sozialinitiativen finden das zynisch
Ralf Wurzbacher

Die Bundesagentur für Arbeit (BA) meint es nur gut mit den Arbeitslosen. Am Dienstag hatte die Nürnberger Behörde einen Halbjahresrekord bei der Zahl der mit Sanktionen abgestraften Hartz-IV-Bezieher bestätigt (jW berichtete). Bis Jahresfrist wird wahrscheinlich die Eine-Million-Grenze geknackt, hieß es, das wären über zehn Prozent mehr als 2011. Aber Vorsicht, warnt dieselbe BA, daß dabei ja kein falsches Bild entsteht. Denn eigentlich ist ihre Klientel viel besser als ihr ramponierter Ruf. Und weil das die BA-Oberen so bekümmert, machen sie sich jetzt daran, das schlechte Image vom Faulenzer in der sozialen Hängematte aufzupolieren.

Erledigen soll das die Hamburger Werbeagentur Scholz & Friends. Die fährt im Auftrag der BA die Kampagne »Ich bin gut«, deren Botschaft so geht: »Die Bundesagentur für Arbeit schreibt täglich Erfolgsgeschichten: von hochmotivierten und kompetenten Hartz-IV-Empfängern, die zurück ins Berufsleben vermittelt werden«. Das helfe Vorurteile abzubauen und Potentiale offenzulegen, meinen die Macher. Worin die Vorbehalte bestehen und wie verbreitet sie sind, hat die BA eigens durch das Allensbacher Institut für Demoskopie in der Bevölkerung abfragen lassen.

BA-Vorstand Heinrich Alt hat die Ergebnisse der Erhebung am Dienstag in Berlin vorgestellt und dabei über »Irrtümer« geklagt, die sich »leider hartnäckig halten« würden. Nach den Befunden der Demoskopen glauben 37 Prozent der Befragten, Langzeitarbeitslose wollten nicht arbeiten, 55 Prozent meinen, sie suchten »nicht aktiv« nach Arbeit, und 57 Prozent halten sie für »zu wählerisch« bei der Jobsuche. Außerdem sind jeweils deutlich über 50 Prozent der Ansicht, die Betroffenen wären »schlecht qualifiziert« und hätten »nichts Sinnvolles zu tun«.

Alles nur Klischees, rückte Alt die Dinge gerade und drückte auf die Tränendrüse: Nach einer BA-Studie sei für 75 Prozent Arbeit »das Wichtigste in ihrem Leben, diese Menschen wollen arbeiten«. Natürlich gebe es in der »Grundsicherung nicht nur Olympioniken«, sondern Leute »mit Brüchen in der Erwerbsbiographie, mit Ecken und Kanten«. Aber genau das könne sie auch interessant für Unternehmen machen. Der Großteil sei »hoch motiviert und verdient eine zweite Chance«, barmte der BA-Vorstand. Dagegen erschwere der »vermeintliche Makel Hartz IV« und die damit verbundenen Ressentiments gegenüber Arbeitsuchenden die Vermittlung ins Berufsleben »erheblich«.

Harald Thomé vom Wuppertaler Sozialhilfeverein Tacheles weiß von noch anderen Vermittlungshemmnissen: »Das Eingliederungsbudget der BA ist allein in diesem Jahr um vier Milliarden Euro gekürzt worden«, äußerte er sich am Mittwoch gegenüber junge Welt. »Die BA ist viel mehr damit beschäftigt, wie sie die Leute sanktionieren und drangsalieren kann, anstatt sie in Arbeit zu vermitteln.« Vor diesem Hintergrund hält Thomé die »Ich-bin-gut«-Kampagne für »nur noch zynisch«. Das stärke keinem Betroffenen das Selbstbewußtsein, nötig wären statt dessen ein »korrekter und menschenwürdiger Umgang und keine Sanktionen«. Sein Urteil: Durch solche PR-Aktionen fühlten sich die Menschen »für dumm verkauft«.

»Entsetzt« über die Kampagne ist auch Martin Behrsing vom Erwerbslosen Forum Deutschland (Elo-Forum). »Mein Eindruck ist, man nimmt erwerbslose Menschen einfach nicht ernst«, sagte er gestern im jW-Gespräch. Die BA trage mit ihrer Politik entscheidend zur Entstehung der gängigen Zerrbilder von Langzeitarbeitslosen bei. Dringend erforderlich wäre dagegen eine Kampagne, die die verfehlte Einstellungspolitik der Unternehmen an den Pranger stellt. Behrsings Titelvorschlag: »Ich bin schlecht.«

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#18

RE: Armut in Deutschland

in Gesellschaft 05.11.2012 11:02
von Lisadill • 744 Beiträge

Beitrag vom 3.11.2012

Wohnungsloser erfroren
Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) fordert die Ausweitung der Kältehilfe in Deutschland:

In Rostock ist am Donnerstag ein 54jähriger wohnungsloser Mann in einem öffentlichen Park erfroren. Am frühen Morgen war er von einem Passanten auf dem Boden liegend entdeckt worden. (…) Angesichts des ersten Kälteopfers des nahenden Winters 2012/13 fordert die BAG Wohnungslosenhilfe e.V., der Dachverband der Wohnungslosenhilfe in Deutschland, daß die Kommunen ihre Kältehilfe deutlich hochfahren. (…)

Besonders betroffen sind die zirka 22000 Wohnungslosen, die ganz ohne Unterkunft auf der Straße leben. Nach Kenntnis der BAG W sind in den letzten 20 Jahren (seit 1991) mindestens 274 Wohnungslose erfroren – im Freien, unter Brücken, auf Parkbänken, in Hauseingängen, Abrißhäusern, in scheinbar sicheren Gartenlauben und sonstigen Unterständen.

Jede Kommune in Deutschland muß Wohnungslose unterbringen. Städte und Gemeinden verstoßen gegen ihre Amtspflichten, wenn sie nicht rechtzeitig Notunterkünfte bereitstellen oder verschaffen. (…) Nach Erfahrung der Wohnungslosenhilfe wird ein Teil der Betroffenen von den Angeboten nicht erreicht. Viele sind physisch und psychisch nicht in der Verfassung, sich in Massenunterkünften zu behaupten und sich ggf. gegen Übergriffe und Auseinandersetzungen durchzusetzen. Viele Angebote sind zu weit abgelegen und werden deswegen nicht erreicht, sind zu früh überfüllt, bieten keine Aufenthaltserlaubnis tagsüber und keine sichere Aufbewahrung der Habseligkeiten.

Die Migration von EU-Bürgern, insbesondere aus den osteuropäischen Mitgliedsstaaten, hat in den letzten Jahren zugenommen. Eine immer größer werdende Zahl dieser Menschen landet irgendwann mittellos, wohnungslos und krank auf der Straße. Das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit steht jedem Menschen zu – unabhängig von der Staatsangehörigkeit. (…) Die BAG W bekräftigt deswegen ihre Appelle und Forderungen an die Kommunen:

– Streetwork und andere Formen aufsuchender Arbeit aus- oder aufbauen, um vom Kältetod bedrohte Wohnungslose auf der Straße aufsuchen zu können

– Notrufnummern einrichten bzw. die 110 propagieren, damit Bürger gefährdete Menschen melden können

– Keine menschenunwürdigen Asyle, sondern Ermöglichung eines Mindestmaßes an Privatsphäre und Selbstbestimmung

– Schutz und Sicherheit vor Diebstahl und Gewalt in den Unterkünften gewährleisten

– Für wohnungslose Frauen muß es die Möglichkeit einer separaten und sicheren Unterbringung geben

– Dezentrale Unterbringungsmöglichkeiten für kleinere Gruppen von Wohnungslosen (auch mit Hunden)

– Großzügige Öffnungszeiten der Unterkünfte, d.h. auch tagsüber und nachts

– Keine Befristung des Aufenthaltes auf wenige Tage pro Monat

– Öffnung von U-Bahnstationen, Bahnhöfen und anderen geeigneten öffentlichen Gebäuden

– Ausreichend viele niedrigschwellige Tagesaufenthalte

– Notfalls zusätzliche Anmietung von geeigneten Räumlichkeiten, bspw. leerstehenden Gewerbeimmobilien, die beheizbar sind und über sanitäre Einrichtungen verfügen.

An die Bürger appelliert die BAG W eindringlich: »Seien Sie aufmerksam! Wenn Sie wohnungslose Menschen sehen, die hilflos oder in einer Notsituation sind, setzen Sie die Polizei in Kenntnis, wählen Sie den Notruf 110! Alarmieren Sie bei akuter gesundheitlicher Gefährdung den Rettungsdienst 112!«

www.bagw.de


zuletzt bearbeitet 05.11.2012 11:03 | nach oben springen

#19

RE: Armut in Deutschland

in Gesellschaft 18.12.2012 22:58
von Lisadill • 744 Beiträge

Politisch gewolltes Elend
Von Ralf Wurzbacher

Wer hierzulande einmal in Not geraten ist, hat schlechte Karten, seiner Lage zu entrinnen. So lautet ein zentraler Befund einer am Dienstag in Berlin vorgestellten Studie der Nationalen Armutskonferenz (nak). Der Zusammenschluß der großen Wohlfahrtsverbände, der Kirchen, des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) und deutschlandweit tätiger Sozial- und Selbsthilfeinitiativen sieht als Hauptursache der sich verfestigenden Armut schlecht bezahlte und prekäre Jobs. Angesichts von rund vier Millionen Menschen, die weniger als sieben Euro pro Stunde verdienten, bestehe akuter politischer Handlungsbedarf, mahnte nak-Sprecherin Michaela Hofman.

Das präsentierte Gutachten versteht sich als »Schattenbericht« zum 4. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, dessen Verabschiedung durch das Bundeskabinett vor kurzem aufs nächste Jahr verschoben wurde. Der Fall hatte für Schlagzeilen gesorgt, weil entscheidende Passagen, die kritische Töne zur Ausbreitung von Armut und der wachsenden Spaltung der Gesellschaft anschlugen, auf Betreiben von Bundeswirtschafsminister Philipp Rösler aus der Ursprungsfassung getilgt wurden (jW berichtete). Ganz auf Linie des FDP-Chefs machte auch gestern der Wissenschaftliche Beirat im Wirtschaftsministerium von sich reden. In seinem neuesten Gutachten befindet das sogenannte Expertengremium: Altersarmut ist »kein drängendes Problem«.

Für die nak gehört Schönfärberei längst zum Regierungsgeschäft. Die Politik neige zur Überbewertung von Aufstiegschancen, wogegen das Risiko zu verarmen kleingeredet werde, heißt es im »Schattenbericht«. Selbst das evidente Auseinanderdriften von Arm und Reich stelle die Bundesregierung in Frage. Mehr noch: Armut wird nach nak-Darstellung sogar verordnet und sei »politisch gewollt«. Es seien Gesetze, die Niedriglöhne ermöglichten und einen Hartz-IV-Regelsatz von derzeit 374 Euro festlegten, »der arm macht und nicht aus der Armut heraushilft«, kritisierte Hofmann. Die Zahl der von relativer Armut Betroffenen liege seit Jahren bei konstant 14 bis 16 Prozent der Bevölkerung und umfasse zwischen 11,5 und 13 Millionen Menschen. Dies sei kein Erfolg, »sondern ein Skandal«.

Gegen die Verschleierung im offiziellen Armutsbericht machte auch der Armutsforscher Walter Hanesch von der Hochschule Darmstadt Front. Nicht erwähnt werde darin, daß sich die Aussichten, aus einer sozialen Notlage zu entkommen, »entscheidend verschlechtert« haben. Unberücksichtigt bleibe auch die Situation von prekär Beschäftigten und von Billiglöhnern. Das gestiegene Risiko, trotz Erwerbstätigkeit zu verarmen, werde völlig ausgeblendet, so Hanesch. Ferner seien kritische Einschätzungen zur Situation von Alleinstehenden aus der Vorlage verschwunden, bemängelte nak-Geschäftsführerin Carola Schmidt und betonte: »Armut ist in Deutschland eine politische Entscheidung.«

Um der »dramatischen Zunahme« der Altersarmut zu begegnen, fordert die nak unter anderem flächendeckend gesetzliche Mindestlöhne sowie einen umfassenden »armutspräventiven Ansatz« in der Arbeitsmarkt-, Sozial- und Familienpolitik. Dazu müßten Erziehungs- und Pflegezeiten sowie Phasen der Erwerbslosigkeit für die Rente »beitragsfähig« gestaltet werden. Außerdem müßte sozialversicherte, existenzsichernde Erwerbsarbeit »mit einem bundesweit bedarfsgerechten Ausbau von Betreuungsangeboten einhergehen«.

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#20

RE: Armut in Deutschland

in Gesellschaft 26.12.2012 19:11
von Lisadill • 744 Beiträge

Horrorkatalog
Gregor Gysi, Vorsitzender der Bundestagsfraktion Die Linke, äußert sich zu den in Medien kolportierten Kürzungsplänen von Finanzminister Wolfgang Schäuble:

Die bekannt gewordenen Pläne weitreichender Sozialkürzungen, die das Finanzministerium für die Zeit nach der Bundestagswahl planen soll, sind so gravierend, daß ein halbseidenes Dementi aus dem Ministerium nicht beruhigen kann. Minister Schäuble selbst muß sich gegenüber Parlament und Öffentlichkeit klar und eindeutig zu diesem unsozialen Horrorkatalog erklären. (…) Die schäbigen und ungerechten Kürzungspläne wären der tiefgreifendste Einschnitt in den Sozialstaat seit den Hartz-Gesetzen. Daß über eine Erhöhung des Sieben-Prozent-Mehrwertsteuersatzes zum Beispiel für Lebensmittel und Bücher auf 19 Prozent, eine Verschiebung des Renteneintritts auf 68 oder 69 Jahre, eine Kürzung der Witwenrenten, eine weitere Kürzung bei vorzeitiger Rente und die Einführung einer zusätzlichen Gesundheitssteuer bei der Lohn- und Einkommenssteuer nachgedacht werden soll, um trotz Euro-Krise die Schuldenbremse einzuhalten, erweckt schlimmste Befürchtungen. Damit würden erneut diejenigen für die Krise zur Kasse gebeten werden, die keine, aber auch nicht die geringste Schuld an ihr tragen.

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