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#1

Der neue Pabst,der erste Latino und der erste Jesuit

in News 15.03.2013 18:55
von Lisadill • 744 Beiträge

Francisco, der Gotteskrieger
Der neue Papst hat ordentlich Dreck am Stecken
Von André Dahlmeyer, Buenos Aires

Argentinien ist in aller Munde. So viele Pressemeldungen über das Land am Río de la Plata gibt es sonst allenfalls, wenn Messi kickt oder Maradona mal Aufstoßen muß. Schuld ist der neue Papst, Jorge Mario Bergoglio, der sein Amt unter dem Pseudonym »Francisco« ausübt und »Benedikt XVI.« nachfolgt – ein Kalauer jagt den nächsten.

»Francisco« ist der erste Latino und der erste Jesuit auf dem Heiligen Stuhl, er ist dort auch der erste Peronist, d.h. Anhänger eines sozialen Überwachungsstaats im Geiste einer kruden Mixtur aus Mussolini und Franco. Erste Resultate der Botschaft aus dem Vatikan waren patriotisches Besoffensein in Lateinamerika und ein nationalistischer »Freudentaumel« in Argentinien. Ansonsten mitunter ganz pfiffige Politiker und Normalbürger verfielen einem tumben, willfährigen Frohlocken, verpuppten sich zu zäher Masse – ein einziger Tausendfüßer.

Nach der Ernennung des Lateinamerikaners verlegten sich auch fortschrittliche Regierungen des Subkontinents darauf, die patriotischen Schübe in ihren Gesellschaften abzusaugen. Das spricht dafür, daß sie nicht so recht an sich selbst glauben. Bergoglio hat über die reaktionären Medienmonopole Südamerikas immer wieder alles attackiert, was auch nur den Anschein von etwas Progressivem hatte. Er ist erklärter Antichavist und liegt ebenfalls im Clinch mit dem »Kirchnerismo«, der seit 2003 Argentinien regiert.

Als im Juli 2010 im argentinischen Kongreß das Gesetz 26.618 (»Matrimono igualitario«) debattiert wurde, das heute die gleichgeschlechtliche Ehe samt Adoptionsrecht legitimiert, lancierte Bergoglio einen ›Offenen Brief‹ mit dem biblischen Zitat: »Dieser Krieg (gegen die Homosexuellen, d.A.) ist gottgewollt!« Präsidentin Cristina Fernández bemerkte, das erinnere sie »ans Mittelalter und die Inquisition«.

Bergoglio steht nicht nur für alles, sagen wir es vornehm: Hausbackene der katholischen Kirche. Er hat auch eine illustre Vergangenheit. Während der letzten Militärdiktatur in Argentinien (1976–1983) kam es zu Hetzjagden auf sogenannte Befreiungstheologen, die damals etwa zehn Prozent der Priester stellten. Viele wurden verschleppt und gefoltert, mit Drogen vollgepumpt aus Militärhubschraubern in den Río de La Plata gestoßen. Wer überlebte, wurde ausgewiesen oder emigierte »freiwillig«. Ausgeliefert wurden sie von ihrer eigenen Kirche. Viele Pfarrer arbeiteten im »Kampf gegen die Subversion« eng mit den Militärs zusammen, einige gingen auch in den etwa 600 geheimen Folterzentren ein und aus.

Bergoglio flog Ende der 90er Jahre auf. Sein Kampf gegen alles »Linke« in der Kirche war schon damals nichts Neues mehr. Der Journalist Horacio Verbitsky konnte belegen, daß Bergoglio den Militärs zwei rangniedere Jesui­ten ausgeliefert hatte. Die von Verbitsky gesammelten Zeugenaussagen lassen keine Fragen offen. Zwei Monate nach dem Militärputsch bat der Bischof von Morón, Miguel Rasponti, 1976 den heutigen Papst, die Jesuitenpriester Orlando Yorio und Francisco Jalics zu schützen – er hatte Wind davon bekommen, daß sie von Militärs entführt werden sollten. Bergoglio schlug die Bitte ab, wie die Katechismus-Lehrerin Marina Rubino bezeugt, die zu dieser Zeit Theologie in dem Colegio studierte, in dem Bergoglio lebte.

Rubino sagt, sie habe zusammen mit Rasponti bei Bergoglio nachgefragt, ob Yorio und Jalics nicht vom Bajo Flores, wo die beiden in Armutsvierteln arbeiteten, nach Morón überstellt werden könnten, wo sie zu diesem Zeitpunkt vermeintlich sicherer gewesen wären. Es war nur eine scheiß Unterschrift. Bergoglio lehnte ab. Yorio und Jalics wurden am 23. Mai 1976 entführt und in die ESMA verfrachtet, die Mechanikerschule der Kriegsmarine beim Stadion des Fußballrekordmeisters River Plate, damals das schlimmste Folterzentrum des Landes. Fünf Monate später wurden die Jesuitenpriester aus Helikoptern in Cañuelas (Provinz Buenos Aires) in einen Graben gekippt. Später bezeugten beide bei verschiedenen Befragungen, daß Bergoglio sie den Militärs ausgeliefert hatte. Dafür gibt es noch mindestens ein Dutzend weitere Zeugen.

Yorio, der überdies mehrmals angab, Bergoglio sei im Folterzentrum ESMA präsent gewesen, starb im August 2000 in Montevideo. Jalics, gebürtiger Ungar, betreibt im »Haus Gries« nahe Wilhemsburg (Oberfranken) seit 30 Jahren »kontemplative Exerzitien«.

Bergoglios Ernennung zum »Stellvertreter Jesu Christi« ist ein Schlag gegen Organisationen wie die »Mütter des Platzes der Mairevolution«, deren Kinder von der Junta ermordet wurden. »Seit wir kämpfen, hatten wir nur Kontakt zu Befreiungstheologen«, erklärte die Präsidentin der Gruppe, Hebe Bonafini, gegenüber junge Welt: »Die offizielle Kirche haben wir immer angeprangert. Das ist die der Repression.«

Mehrmals war Bergoglio bei Menschenrechtsprozessen in Argentinien vorgeladen. Er wollte jedesmal von nichts gewußt haben. Aber alles spricht gegen ihn. »Die Papstwahl war eine ultraeklige!« sagt Mirta Acuña Baravalle von den »Madres de la Plaza de Mayo«, die sich zum heutigen Oberhaupt der Katholiken schon aus Anlaß ihres 30jährigen Bestehens 2007 erschöpfend erklärt haben: »Als Madres lehnen wir die Worte von Kardinal Bergoglio ab. Er und seine Gefolgschaft wissen, daß sie ein wesentlicher Bestandteil der Diktatur waren. Weder Kirche noch Justiz haben diese Schweine verurteilt, aber wir vergessen nicht, was sie den Machthabern gesagt haben: ›Sieben Stunden Folter sind keine Sünde.‹«

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#2

RE: Der neue Pabst,der erste Latino und der erste Jesuit

in News 23.03.2013 19:10
von Lisadill • 744 Beiträge

21.03.2013 | 12:53 45
Anwälte der Armen

Lateinamerika Papst Franziskus spricht von einer „Kirche der Armen“. Dabei hat er sich stets gegen deren wahre Fürsprecher gewandt – die Befreiungstheologen
Anwälte der Armen

Foto: Daniel Vides/ AFP/ Getty Images

„Wenn ich den Armen Essen gebe, nennt man mich einen Heiligen. Wenn ich frage, warum sie arm sind, nennt man mich einen Kommunisten.“ Der Ausspruch des brasilianischen Erzbischofs Dom Hélder Pessoa Câmara zeigt einen der großen Risse in der katholischen Kirche. Aber er bringt auch zum Ausdruck, wie inhaltslos die Behauptung des neuen Papstes ist, er stehe auf der Seite der Armen.

Die mutigsten Menschen, die ich kennengelernt habe, waren alle katholische Priester. Als ich in West-Papua und in Brasilien arbeitete, begegnete ich Männern, die immer wieder bereit waren, zum Wohle anderer den eigenen Tod zu riskieren. Als ich zum ersten Mal an die Tür des Klosters von Bacabal im brasilianischen Bundesstaat Maranhão klopfte, glaubte der Priester, ich sei geschickt worden, um ihn zu töten. An jenem Morgen hatte er eine weitere Todesdrohung einer lokalen Rancher-Vereinigung bekommen. Trotzdem öffnete er die Tür.
Schutz vor Folter und Tod

Im Kloster war eine Gruppe von Kleinbauern – einige von ihnen weinten und zitterten. Ihre Körper waren mit blauen Flecken übersät, die man ihnen mit Gewehrkolben beigebracht hatte. An ihren Handgelenken waren Verbrennungen zu sehen. Solche, die entstehen, wenn jemand die Haut mit Seilen scheuert. Diese Kleinbauern gehörten zu den tausenden von Menschen, denen die Priester Schutz zu geben versuchten. Schutz vor expansionistischen Gutsherren, die ihre Häuser niederbrannten, sie von ihrem Land vertrieben, folterten und töteten. Unterstützt von der Polizei, lokalen Politikern und einer korrupten Justiz.

Ich erfuhr die Angst, mit der diese Priester lebten, als ich von der Militärpolizei verprügelt und beinahe erschossen wurde. Doch sie ließen mich gehen. Die Priester blieben, um Menschen zu verteidigen, die um ihr Land kämpften und oftmals um Leben und Tod. Die Verteibung bedeutete für viele Unterernährung, Krankheit und die Gefahr, in Slums oder Goldminen ermordet zu werden.

Die Priester gehörten einer Bewegung an, die sich in ganz Lateinamerika ausgebreitet hatte. Sie beriefen sich auf das 1971 erschienene Buch „Eine Theologie der Befreiung“ von Gustavo Gutiérrez. Die Befreiungstheologen stellten sich nicht nur zwischen die Armen und die Mörder, sie mobilisierten ihre Gemeinden auch zum Widerstand gegen die Enteignungen. Sie wollten, dass die Unterdrückten ihre Rechte kennen und verteidigten. Ihren Kampf verstanden sie als Teil einer langen Geschichte des Widerstands, der mit dem Auszug der Israeliten aus Ägypten beginnt.
Inquisition gegen Befreiungstheologen

Als ich mich ihnen 1989 anschloss, waren gerade sieben brasilianische Priester ermordet worden. In Südamerika waren viele andere Geistliche inhaftiert, gefoltert und getötet worden. Óscar Romero, der Erzbischof von San Salvador, war erschossen worden. Aber Diktatoren, Landherren, Polizisten und Killer waren nicht die einzigen Feinde der Befreiungstheologen. Nach sieben Jahren kehrte ich nach Bacabal zurück und begegnete wieder dem Priester, der mir bei meinem ersten Besuch die Tür geöffnet hatte. Er konnte nicht mit mir reden. Er war während der „großen Säuberung“ innerhalb der Kirche zum Schweigen gebracht worden. Die Löwen Gottes wurden von Eseln angeführt. Die Kleinbauern hatten ihren Schutz verloren.

Der Kampf gegen die Befreiungstheologen begann 1984 mit der Veröffentlichung eines Dokuments durch die Kongregation für die Glaubenslehre (früher als „Inquisition“ bekannt). Verfasser war ihr Präfekt namens Joseph Ratzinger. Die Schrift dreht sich um die „Gefahren der Abweichung“, die von der Befreiungstheologie ausgehe.

Ratzinger leugnet darin aber nicht die von den Befreiungstheologen kritisierte Realität. In dem Dokument ist die Rede von der „Anhäufung der Reichtümer durch eine Besitzeroligarchie (…), Militärdiktaturen, die die elementaren Menschenrechte missachten, die Korruption bestimmter Machthaber, die zügellosen Praktiken des ausländischen Kapitals in Lateinamerika.“ Aber Ratzinger besteht darauf, dass „Heil und Heilung von Gott allein“ zu erwarten seien. „Gott, nicht der Mensch, hat die Macht, die Not anzuwenden“, schreibt er.

Sein einziger ernst gemeinter Vorschlag war, die Priester sollten die Diktatoren und die Auftragskiller dazu bringen, ihre Nächsten zu lieben und sich in Selbstkontrolle zu üben: „Soziale Veränderungen, die wirklich im Dienst des Menschen stehen, wird man nur erreichen, indem man an die Ethik der Person und an die beständige innere Umkehr appelliert.“ Ganz bestimmt bekamen es die Generäle und ihre Todesschwadronen bei solchen Worten mit der Angst zu tun.
Bis heute keine Entschuldigung

Ratzinger hätte zu seiner Verteidigung allenfalls sagen können, dass er in der Abgeschiedenheit des Vatikans kaum eine Vorstellung davon hatte, was sein Schreiben bewirken konnte. Als in Rom der Prozess gegen den Priester Leonardo Boff, einer der führenden Befreiungstheologen, stattfand, lud der Erzbischof von São Paolo Ratzinger ein, damit er sich mit eigenen Augen ein Bild von der Situation der Armen in Brasilien mache. Ratzinger lehnte die Einladung ab. Mehr noch: Einen Großteil der Diözese des Erzbischofs wies er andere Bischöfen zu. Ratzinger war vorsätzlich unwissend. Doch auch der neue Papst hat sich für all diese Vorgänge noch nicht entschuldigt.

Franziskus wusste, wie Armut und Unterdrückung aussahen: Er feierte mehrmals im Jahr Messen in dem Slum „Villa 21-24“ in Buenos Aires. Doch als Führer der argentinischen Jesuiten verunglimpfte er die Befreiungstheologie und forderte die Fürsprecher der Armen dazu auf, sich aus den Slums zurückziehen und ihre politischen Aktivitäten aufzugeben.

Nun behauptet er, er wünsche sich „eine Kirche für die Armen“. Heißt das, dass er den Armen Brot geben will? Oder geht es ihm auch um die Ursachen der Armut? Die Diktaturen Lateinamerikas führten Kriege gegen die Armen. Vielerorts setzte sich die Unterdrückung auch nach dem Zusammenbruch der Diktaturen fort. Die verschiedenen Fraktionen der katholischen Kirche standen sich feindlich gegenüber. Was diejenigen, die die Befreiungstheologie unterdrückten, auch immer zu ihrer Verteidigung zu sagen haben: De facto waren sie Verbündete von Tyrannen, Landräubern, Sklavenhaltern und Todesschwadronen. Seiner demonstrativen Bescheidenheit zum Trotz – Papst Franziskus stand auf der falschen Seite.

Übersetzung: Zilla Hofman

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#3

RE: Der neue Pabst,der erste Latino und der erste Jesuit

in News 30.03.2013 08:00
von Lisadill • 744 Beiträge

Ein widersprüchlicher Papst
Hintergrund. Franziskus I.: Traditionalistische Katholiken gehen auf Distanz, Befreiungstheologen setzen ihre Hoffnung in ihn
Von Adalbert Krims

Die Wahl des argentinischen Kardinals Jorge Mario Bergoglio und seine ersten öffentlichen Auftritte als Papst haben weltweit ein enormes Medienecho ausgelöst. Nachdem erstmals in der Neuzeit ein Papst zurückgetreten war, ist zum ersten Mal ein Lateinamerikaner (und Jesuit) zum Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche gewählt worden. Bergoglio war schon als Erzbischof von Buenos Aires durch seinen bescheidenen Lebensstil und sein Eintreten für die Armen aufgefallen, was ihm dort auch den Namen »Kardinal der Armen« eingetragen hatte. Die Wahl des Papstnamens »Franziskus« (in Anlehnung an den Bettelmönch Franz von Assisi im Mittelalter) sowie bewußte Abstriche vom päpstlichen Pomp bei seiner Amtseinführung machten den Argentinier zusätzlich populär. Andererseits war der Beginn des neuen Pontifikats von der Diskussion über die Rolle des damaligen Jesuitenprovinzials Bergoglio während der Militärdiktatur in Argentinien überschattet.

Bergoglio wurde am 17. Dezember 1936 als Sohn italienischer Einwanderer in Buenos Aires geboren, wo er zweisprachig und als Doppelstaatsbürger in bescheidenen Verhältnissen aufwuchs. Sein Vater war Arbeiter bei der Eisenbahn. Jorge immatrikulierte sich nach der Schulzeit für das Fach Chemietechnik. 1958 trat er dem Jesuitenorden bei und studierte Theologie sowie Philosophie in Argentinien, Chile und Deutschland. 1969 erhielt er die Priesterweihe, bereits vier Jahre später (im Alter von nur 37 Jahren!) wurde er Provinzial seines Ordens für Argentinien (bis 1979). Von 1980 bis 1986 war er Rektor der Theologischen Fakultät der Jesuiten-Universität San Miguel in Buenos Aires. Nach Forschungsaufenthalten (auch in Deutschland) sowie der Tätigkeit als geistlicher Leiter eines Seminars in Córdoba ernannte ihn 1992 Papst Johannes Paul II. zum Weihbischof, 1998 zum Erzbischof von Buenos Aires und 2001 zum Kardinal. Im November 2005 wurde Kardinal Bergoglio zum Vorsitzenden der Bischofskonferenz gewählt und übte dieses Amt bis November 2011 aus. Am 13. März 2013 wählten ihn schließlich die 115 wahlberechtigten Kardinäle zum – nach offizieller Lesart – 266. Papst der römisch-katholischen Kirche.
Während der Militärdiktatur
Der Militärputsch in Argentinien vom 24. März 1976 wurde von vielen katholischen Bischöfen begrüßt, sah man darin doch die »Verteidigung des Christentums gegen den gottlosen Kommunismus«. Außerdem waren die Diktatoren brave Kirchgänger und unterstützten die offizielle römische Linie in Moralfragen. Dennoch befürwortete nur eine Minderheit der Bischöfe offen die Militärdiktatur. Ein großer Teil der Hierarchie vertrat eine Position der »Neutralität« und versuchte, sich aus den politischen Auseinandersetzungen herauszuhalten – was natürlich in der Konsequenz einer Legitimierung der politischen Macht nahekam. In den oberen Kirchenrängen gab es fast niemanden, der den Putsch und die nachfolgenden Verbrechen der Militärs klar verurteilte. Jesuitenprovinzial Bergoglio, der nicht der argentinischen Kirchenleitung angehörte, war am ehesten der Gruppe der »Neutralen« zuzurechnen und verlangte von seinen Ordensbrüdern, sich an keinen »politischen Aktivitäten« zu beteiligen.

Darin lag auch der Ursprung des Konfliktes zwischen dem Provinzial und zwei Patres, die sich weigerten, auf seine Anweisung hin ihre Pfarrstellen in einem Elendsviertel aufzugeben. Bergoglio stellt es so dar, daß er erfahren habe, daß Franz Jalics und Orlando Yorio gefährdet gewesen seien, und deshalb habe er sie ins Mutterhaus des Ordens zurückbeordert. Jalics und Yorio waren Anhänger der »Theologie der Befreiung« und leisteten Sozialarbeit unter den Ärmsten. Deshalb wurden sie verdächtigt, mit der Guerillabewegung zusammenzuarbeiten. Zwei Monate nach dem Putsch wurden die beiden verhaftet, schwer gefoltert und erst nach über fünf Monaten wieder freigelassen (Yorio ging ins benachbarte Uruguay, wo er im Jahr 2000 verstarb; der aus Ungarn stammende Jalics übersiedelte nach Deutschland, wo er heute noch lebt).

Die Frage, ob Bergoglio zu wenig für den Schutz der beiden Patres getan oder sie gar bei den Behörden angezeigt hat – oder umgekehrt ihnen das Leben gerettet und ihre Freilassung erwirkt hat, ist bis heute nicht restlos geklärt. Vor allem der argentinische Enthüllungsjournalist Horacio Verbitsky, der selbst zur Zeit der Militärdiktatur in der Guerillabewegung aktiv war und die Hauptquelle der Vorwürfe gegen Bergoglio ist, hat in seinem Buch »El Silencio« (»Das Schweigen«) sowie in zahlreichen Zeitungsartikeln dem damaligen Jesuitenprovinzial vorgeworfen, Jalics und Yorio an die Militärs ausgeliefert zu haben. Dabei stützte sich Verbitsky auch auf mündliche Aussagen der beiden Jesuiten.

Wenige Tage vor der Papstwahl im Jahr 2005 erstattete der argentinische Menschenrechtsanwalt Marcelo Perrilli bei der Staatsanwaltschaft in Buenos Aires Strafanzeige gegen Kardinal Bergoglio wegen des Verdachts auf Verwicklung in die Entführung der beiden Jesuitenpatres im Jahr 1976. Angeblich soll diese Anzeige auch mit dazu beigetragen haben, daß Bergoglio, der in zwei Wahlgängen der aussichtsreichste Gegenkandidat zu Kardinal Ratzinger war, seine Kandidatur bei der Papstwahl zurückgezogen hatte.

Die Staatsanwaltschaft erhob zwar keine Anklage gegen Bergoglio, bei einem anderen Diktaturverfahren wurde der Kardinal aber als Zeuge auch über den Fall der beiden Jesuitenpatres befragt. Nachdem er zweimal nicht vor Gericht erschienen war, sagte er 2010 aus. Dabei wiederholte er, was er zuvor schon in seiner Autobiographie »Der Jesuit« geschrieben hatte: Er habe Jalics und Yorio vor den Gefahren gewarnt und ihnen Schutz im Jesuitenhaus angeboten. Nach ihrer Verhaftung habe er sich für sie eingesetzt, u.a. in direkten Gesprächen mit den Junta-Führern Jorge Rafael Videla und Emilio Massera: »Ich habe getan, was ich – angesichts meines Alters und meiner wenigen Beziehungen – tun konnte, um den Verschwundenen zu helfen.« Bergoglio bestätigte bei Gericht, daß »jeder Priester, der mit den Armen arbeitete, ein Ziel für Verdächtigungen und Beschuldigungen« von Seiten des Militärs war.

Nach der Papstwahl 2013 flammte die Diskussion um die Geschehnisse von 1976 erneut auf, ohne daß wesentlich neue Aspekte auftauchten. Der argentinische Friedensnobelpreisträger des Jahres 1980, Adolfo Perez Esquivel, selbst Folteropfer der Diktatur, verteidigte den neugewählten Papst: »Es gab Bischöfe, die Komplizen der Diktatur waren, aber Bergoglio nicht. Im Gegenteil: Er hat viele gerettet und versteckt, die von der Militärdiktatur verfolgt wurden.« Und P. Franz Jalics, einer der beiden Jesuiten, die in den 1990er Jahren Vorwürfe gegen Bergoglio erhoben hatten, meldete sich mit einer schriftlichen Erklärung zu Wort, in der es u.a. heißt: »Früher neigte ich selber zu der Ansicht, daß wir Opfer einer Anzeige geworden sind. Ende der 90er Jahre aber ist mir nach zahlreichen Gesprächen klar geworden, daß diese Vermutung unbegründet war. Es ist daher falsch zu behaupten, daß unsere Gefangennahme auf die Initiative von Pater Bergoglio geschehen ist.« Der zweite betroffene Jesuitenpater, Orlando Yorio, war offenbar bis zu seinem Tod von einer Mitschuld Bergoglios an seiner Entführung im Jahre 1976 überzeugt.

Da diese Causa weder gerichtsanhängig noch eine andere Form einer unabhängigen Untersuchung absehbar ist und außerdem immer weniger Täter wie Opfer des »schmutzigen Krieges« der Jahre 1976 bis 1983 leben, wird es wohl nie eine zweifelsfreie Klarheit über die Umstände der Entführung der beiden Jesuitenpatres und eine mögliche Involvierung des damaligen Provinzials Bergoglio geben. Fest steht jedenfalls, daß Bergoglio in seinem Verhältnis zur Militärdiktatur »kein Romero« gewesen ist, wie der Jesuitenpater und Befreiungstheologe Jon Sobrino es im Vergleich mit seinem salvadorianischen Landsmann Erzbischof Romero formuliert hat. Dazu kommt, daß in der Diskussion sehr oft das allgemeine Verhalten der argentinischen Kirchenhierarchie und das persönliche Verhalten von Bergoglio vermischt werden. Bergoglio war damals kein Bischof und auch nicht Mitglied der Kirchenleitung, so daß er nicht für die Komplizenschaft einiger Bischöfe mit der Junta verantwortlich gemacht werden kann.

Als er 1998 Erzbischof von Buenos Aires wurde, hat er sich dafür eingesetzt, daß sich die argentinische Bischofskonferenz im Jahr 2000 (also 14 Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur!) erstmals öffentlich entschuldigte für »Verbrechen, in die einige Söhne der Kirche verstrickt waren«. Dieses allgemeine Schuldbekenntnis (»Wir wollen alles, was wir falsch gemacht haben, vor Gott bekennen!«) führte aber nicht zu einer konkreten Aufarbeitung der Vergangenheit – und auch Bergoglio selbst meinte, es müsse vor allem darum gehen, die »alten Wunden verheilen« zu lassen. Die Frage der Vergangenheitsbewältigung war dann 2003 auch der erste Konflikt der Bischofskonferenz (und Kardinal Bergoglios) mit dem linksperonistischen Präsidenten Néstor Kirchner, der die Aufarbeitung der Diktaturverbrechen vorantreiben wollte. Ohne Wahrheit und Gerechtigkeit gebe es keine Zukunft, hatte Kirchner erklärt.
Konservativ mit sozialer Sensibilität
10: Eine »arme Kirche ist für die Armen« da, ab
10: Eine »arme Kirche ist für die Armen« da, aber »wer nicht zum Herrn betet, betet zum Teufel« (Jorge M. Bergoglio küßt den Fuß eines jugendlichen Strafgefangenen, Rom, 28.3.2013)
Foto: Osservatore Romano/Reuters
Bergoglio wurde im Jahre 1992 dem erzkonservativen Kardinal von Buenos Aires und Vorsitzenden der argentinischen Bischofskonferenz, Antonio Quarracino als Weihbischof zur Seite gestellt. Quarracino, der während der Militärdiktatur Bischof von Avellaneda war, schickte man im Jahr 1978 als Apostolischen Visitator nach San Salvador, um dort die Amtsführung von Erzbischof Oscar Arnulfo Romero zu beobachten, der wegen seiner befreiungstheologischen Predigten von rechten Kreisen im Vatikan angezeigt worden war. Quarracino schlug in seinem Bericht eine de-facto-Entmachtung Romeros vor. Ob der Vatikan dieser Empfehlung nachgekommen wäre, weiß man nicht, da der Erzbischof von San Salvador am 24. März 1980 im Auftrag der Rechten ermordet wurde.

Nach dem Tod von Kardinal Quarracino am 28. Februar 1998 wurde Bergoglio zunächst sein Nachfolger als Erzbischof von Buenos Aires, 2001 ernannte ihn Papst Johannes Paul II. auch zum Kardinal. Es versteht sich von selbst, daß für eine solche kirchliche Schlüsselfunktion nur ein Mann in Frage kam, der in der Theologie absolut romtreu war. Bis 1990 (also während des Kalten Krieges) war das entscheidende Kriterium bei der Neuernennung von Kardinälen in Lateinamerika, daß diese die Befreiungstheologie ablehnten – und stramm antikommunistisch ausgerichtet sein mußten, wodurch vor allem in den 1980er Jahren zunehmend Anhänger des reaktionär-elitären Opus Dei zum Zug kamen. Die Verschärfung innerkirchlicher Spannungen führte dann zu einer gewissen Abmilderung der vatikanischen Personalpolitik in Lateinamerika: Zwar gab es keine prinzipielle Abkehr von den bisherigen Auswahlkriterien, doch wurden eher gemäßigtere Konservative mit einer gewissen sozialen Sensibilität ernannt. Diese Kriterien trafen offenbar auf Bergoglio zu. Er wurde nicht den »Hardlinern« zugerechnet, die außerdem durch ihre Unterstützung der Diktatur diskreditiert waren, sondern galt als »gemäßigt konservativ« und »dialogbereit«.

Bezüglich Liberalisierung der Abtreibungsgesetze und der Gleichstellung homosexueller Paare geriet Bergoglio allerdings in offenen Konflikt mit den Regierungen von Néstor und Cristina Kirchner. Als er 2010 die Homo-Ehe als »Angriff auf den Plan Gottes« und einen »Schachzug des Teufels« bezeichnete, antwortete Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner, sie fühle sich an »die Zeiten des Mittelalters und die Inquisition« erinnert. Allerdings muß man auch darauf hinweisen, daß Bergoglio in Fragen der Sexualmoral nur die offizielle Haltung der römisch-katholischen Kirche vertreten hat. Hätte er das nicht getan, wäre er wohl kaum von Johannes Paul II. zum Kardinal ernannt und von über 80 Prozent der Kardinäle zum Papst gewählt worden.

Trotz seiner konservativen theologischen Positionen hat sich Bergoglio in Argentinien bei der militanten katholischen Rechten – wie vor allem dem traditionalistischen Instituto del Verbo Encarnado (IVE, Institut des fleischgewordenen Wortes) – keine Freunde gemacht. Das IVE wurde 1984 in Argentinien gegründet und hat sich von dort in 37 Länder auf fünf Kontinenten ausgebreitet (u.a. Chile, Brasilien, Peru, Vereinigte Staaten, Rußland, Italien, Philippinen und Sudan). Als Bergoglio Erzbischof von Buenos Aires wurde, schloß die argentinische Bischofskonferenz das Seminar des IVE und stoppte dessen Priesterweihen. Über den Gründer und andere Amtsträger des Instituts wurden Restriktionen verhängt. Aber mit Hilfe des damaligen vatikanischen Kardinalstaatssekretärs Angelo Sodano wurde der Hauptsitz des IVE in die kleine italienische Diözese Velletri-Segni verlegt, die zur Kirchenprovinz Rom gehört und formell von einem Kurienkardinal geleitet wird (bis 2005 war das Kardinal Ratzinger, seither der nigerianische Kurienkardinal Francis Arinze). Auf diese Weise konnten die Restriktionen der argentinischen Bischofskonferenz umgangen werden. Außerdem verschaffte Sodano im Jahr 2004 – Papst Johannes Paul II. war zu diesem Zeitpunkt krankheitsbedingt nicht mehr handlungsfähig – dem Institut den kirchenrechtlichen Status einer »Kongregation bischöflichen Rechts«. Bergoglio hatte also schon seit Beginn seiner Kardinalslaufbahn einen Konflikt mit dem Zentrum der Kurie, was ihn sicher auch für eine Reform dieser vatikanischen Behörde motivieren wird.
Kritik der Traditionalisten
Die Popularität, die Bergoglio in den 14 Jahren als Erzbischof von Buenos Aires gewonnen hat, ist vor allem seinem einfachen Lebensstil und seiner glaubwürdigen Solidarität mit den Armen zu verdanken. Nachdem das ohnehin ausführlich über alle Medien verbreitet wurde, braucht hier nicht näher darauf eingegangen zu werden. Trotzdem ist dieser Hinweis notwendig, weil ansonsten nicht verständlich wäre, warum ein eher doktrinärer und asketischer Mann bei den einfachen Menschen so gut »angekommen« ist. Übrigens hat er sich nicht auf sozial-caritative Tätigkeit beschränkt, sondern durchaus auch das Wirtschaftssystem kritisiert. So schrieb er etwa: »Die ungleiche Verteilung der Güter schafft eine Situation sozialer Sünde, die zum Himmel schreit und so vielen Brüdern und Schwestern die Möglichkeit eines erfüllten Lebens vorenthält.«

Daß Bergoglio in einem der kürzesten Konklave der Geschichte mit so großer Mehrheit (über 80 Prozent) zum Papst gewählt wurde, ist jedenfalls auch Ausdruck der großen Unzufriedenheit mit der römischen Kurie angesichts diverser Skandale und der Erwartung, daß ein lateinamerikanischer Papst, der aber zugleich Italiener ist, und der in keiner Weise in das Intrigengeflecht der Zentrale eingebunden war (und auch mit Opus Dei nichts zu tun hat), am ehesten eine Kurienreform auf den Weg bringen könnte. Dennoch kam es dann doch überraschend, daß Bergoglio sich mit der Namenswahl keinen bisherigen Papst der Kirchengeschichte zum Vorbild nahm, sondern den italienischen Bettelmönch Franziskus des Mittelalters. Beim Empfang für Medienmitarbeiter begründete er seine Namenswahl: »Franz von Assisi ist für mich der Mann der Armut, der Mann des Friedens, der Mann, der die Schöpfung liebt und bewahrt.« Und er bekräftigte, daß seine Wunschvorstellung eine »arme Kirche für die Armen« sei.

Das ist wohl auch der Grund, warum so viele vom Vatikan gemaßregelte Kirchenkritiker (wie Hans Küng) und Befreiungstheologen (wie Leonardo Boff), aber auch fortschrittliche Bischöfe (wie Erwin Kräutler oder Pedro Casaldáliga) durchaus positive Hoffnungen in den neuen Papst setzen. Küng kommentierte die ersten Auftritte des Papstes so: »Es ist bereits nach den ersten Tagen ein radikaler Wandel zu sehen. Das gibt Hoffnung, daß der neue Papst auch noch zu weiterem Wandel fähig ist.« Und Boff sagte: »Ich bin ermutigt von dieser Wahl, die ich als ein Versprechen für eine Kirche der Einfachheit und der ökologischen Ideale betrachte. (…) Er ist in die Slums gegangen und hat mit den Menschen dort gesprochen, er hat soziale Ungerechtigkeiten angeprangert. Und er hat vorgelebt, was er predigte.«

Papst Franziskus, der sich in seinen Reden immer nur als »Bischof von Rom« bezeichnete, hat sich auch mit demonstrativen Gesten der Bescheidenheit und Volksnähe deutlich vom Zeremoniell und Pomp seiner Amtsvorgänger abgesetzt, was bei den Medien und in der Öffentlichkeit gut angekommen ist, allerdings im Vatikan selbst – und vor allem bei traditionalistischen Katholiken – auch zu Mißstimmung führte. »Die ultrakonservativen Katholiken haben derzeit Mühe mit der Papsttreue. Die Revolutionierung der päpstlichen Umgangsformen hat bereits viele der bisherigen Ratzinger-Getreuen erschüttert«, schrieb Der Spiegel und zitierte einen katholischen Traditionalisten: »Franziskus ist nicht demütig. Es ist Größenwahn zu glauben, das Papsttum neu erfinden und sich über das hinwegsetzen zu können, was 20 christliche Jahrhunderte geschaffen haben.« Auch die traditionalistische Piusbruderschaft, deren kirchliche Wiedereingliederung Benedikt XVI. besonders am Herzen lag, hat sich bereits deutlich von Aussagen des neuen Papstes – insbesondere zum Dialog mit anderen Religionen – distanziert.

Die Widersprüchlichkeit des neuen Papstes wurde aber gleich bei seiner ersten Predigt – vor den Kardinälen – wieder deutlich. Befremdlich war vor allem das Zitat des französischen katholischen Schriftstellers Léon Bloy (1846–1917, der eine radikale Christus-Nachfolge in totaler Armut. propagierte: »Wer nicht zum Herrn betet, betet zum Teufel. Wer sich nicht zu Christus bekennt, gibt die Welt der Weltlichkeit des Teufels anheim.« Während der Papst sonst bei seinen ersten Auftritten bemüht war, auch Anders- oder Nichtgläubige anzusprechen, so wäre dieser Satz – wenn man ihn wörtlich nimmt – nichts anderes als eine mehr als heftige Verdammung aller, die sich nicht zu Christus bekennen. Wenn man dazu noch seine Aussagen über Homo-Ehe in Argentinien nimmt, so ist irritierend, daß der Teufel offenbar eine wichtige Rolle im Denken von Papst Franziskus spielt.

Die Frage, welche Weichen das neue Oberhaupt für die Zukunft der katholischen Kirche stellen wird, wird sich schon in den nächsten Wochen bei der Neubesetzung der vatikanischen Zentralstellen zeigen. Das wird die erste Nagelprobe für die Glaubwürdigkeit seiner Ankündigungen sein. Weitere dringende Herausforderungen, die er ebenfalls bald in Angriff nehmen muß, sind die Reform der Kurie und die Zukunft der vatikanischen Finanzen (vor allem der Vatikanbank) – Stichwort: »eine arme Kirche für die Armen!« –, die Aufarbeitung und Verhinderung von Mißbrauchsfällen etc. Bergoglios kirchliche Karriere war von vielen Widersprüchen und Ambivalenzen gekennzeichnet. Als Papst Franziskus wird er nun an seiner eigenen Zielsetzung zu messen sein. Allerdings: Änderungen in Glaubens- oder Moralfragen wird es unter diesem Papst wohl nicht geben.

Adalbert Krims ist Chefredakteur der Zeitschrift Kritisches Christentum in Wien und war von 1991 bis zur Pensionierung 2011 Redakteur beim Österreichischen Rundfunk (ORF)

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