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Hunger und Verwüstung

in Natur & Umweltschutz 28.11.2012 19:00
von Lisadill • 744 Beiträge

Hunger und Verwüstung

Hintergrund. Lebensmittelspekulation, Land Grabbing und Agrotreibstoffproduktion: Drei aktuelle Instrumente zur Renditemaximierung verursachen Nahrungsmangel und Verödung von Böden
Von Peter Clausing

Die DWS Investments, eine Fondsgesellschaft der Deutschen Bank, frohlockte vor einiger Zeit auf ihrer Website: »Die rasant wachsende Weltbevölkerung, (…) Land- und Wasserknappheit – all das sind Punkte, die für überdurchschnittlich gute Perspektiven der Agrarwirtschaft sprechen.« Derlei Sprüche sind in der Welt der Investmentbanker inzwischen häufig zu finden. Die Fondsmanager bieten den Investoren sogenannte Alpha-Renditen von bis zu 25 Prozent jährlich. Die Angst vor »Brotrevolten« (Food Riots), die in den Jahren 2007/2008 die Welt erschütterten, scheint verflogen. Damals, als sich die Preise für Reis, Mais und andere Getreidearten innerhalb von ein, zwei Jahren verdoppelten oder gar verdreifachten, gab es Hungerproteste in über 40 Ländern.1 Im Jahr 2009 reduzierten sich die Weltmarktpreise für Nahrungsmittel auf das Durchschnittsniveau von 2007, aber seit 2011 liegen sie sogar über dem Wert von 2008.

Doch wo bleiben die Proteste? In etlichen Ländern, die vor knapp fünf Jahren zu den Hochburgen der Brotrevolten zählten, hat sich die gesellschaftliche Situation erheblich verändert. Mexiko war das erste Land in der Serie dieser Erhebungen. Dort wurde bereits im Herbst 2007 – medial als »Tortillakrise« vermarktet – gegen die hohen Maispreise protestiert.

In Mexiko ist es inzwischen zu einer massiven Militarisierung des öffentlichen Lebens gekommen. Der Anfang 2007 ausgerufene »Krieg gegen die Drogenkriminalität«, dem inzwischen über 60000 Menschen, darunter eine große Zahl unschuldiger Zivilisten, zum Opfer fielen, beherrscht das öffentliche Leben. Auch in Haiti, ein weiteres Schwerpunktland der damaligen Hungerproteste, hat die militärische Kontrolle der Gesellschaft zugenommen. Das schwere Erdbeben im Januar 2010 bot unter dem Vorwand der Nothilfe die Möglichkeit, die ausländische Militärpräsenz drastisch zu verstärken.

Andere Schwerpunktländer der Proteste zeigten wiederum, daß autoritäre Herrschaft und militärische Kontrolle keine Garantie für »Ruhe und Ordnung« darstellen: In Marokko, Tunesien, Ägypten, Jemen und Somalia hat es seitdem teils dramatische, wenngleich widersprüchliche Veränderungen gegeben. Insgesamt fand die Erkenntnis Bestätigung, daß Food Riots keine chaotischen Gewaltausbrüche irrationaler Massen sind, sondern organisierte, zweckbestimmte Aktionen. Dafür legte unter anderem der »arabische Frühling« Zeugnis ab.
Wenn der Inder zweimal ißt
Während es keinen Zweifel darüber gibt, daß die Preisexplosion vor rund fünf Jahren zu den globalen Protesten führte, gehen die Meinungen über die Ursache der Preisexplosion weit auseinander. Angela Merkel verkündete im April 2008 öffentlich, daß die Menschen in Indien daran Schuld seien, denn dort nähmen neuerdings 300 Millionen Menschen eine zweite Mahlzeit am Tag ein. Ähnlich, wenngleich politisch korrekter, formuliert wurde diese Behauptung von der Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie in einer Stellungnahme für eine Sitzung des Agrarausschusses des Bundestages wiederholt, die am 27. Juni 2011 zum Thema »Spekulation mit Agrarrohstoffen verhindern« stattfand: »Das aktuell relativ hohe Weltmarktpreisniveau ist auf eine insgesamt eher knappe Versorgungssituation aufgrund wachsender Weltbevölkerung und wachsenden Wohlstandes in Ländern wie China, Indien und anderen (…) Schwellenländern zurückzuführen.« Auch Professor P. Michael Schmitz vom Institut für Agrarpolitik und Marktforschung der Universität Gießen vertrat die Ansicht, daß sich die Preisexplosion im Zeitraum 2007/2008 und der erneute Anstieg in 2010/2011 »weitgehend auf angebots- und nachfrageseitige Fundamentalfaktoren der Agrarmärkte selbst« zurückführen lasse.2 Die »nachfrageseitigen Fundamentalfaktoren« schließen die zweite Mahlzeit der Menschen in Indien mit ein.

Dem halten die prominente Ökonomin Jayati Gosh und und ihre Kollegen entgegen, daß solche Behauptungen unbegründet sind, denn a) habe es im Vergleich zu früheren Jahren zwischen 2008 und 2011 kaum eine Veränderung im globalen Nahrungsmittelverbrauch gegeben und b) sei die Beschuldigung Indiens und Chinas völlig haltlos, denn sowohl der Gesamt- als auch der Pro-Kopf-Verbrauch an Getreide sei in beiden Ländern in besagtem Zeitraum nachweislich gefallen und nicht gestiegen.3 Die Autoren stellen nicht in Abrede, daß auch Faktoren auf der Angebotsseite eine Rolle spielen und in der Zukunft eine noch stärkere Rolle spielen werden. Dazu zählen die Flächenkonkurrenz durch Agrotreibstoffe, steigende Inputkosten sowie mittelfristig fallende Erträge aufgrund von Bodenzerstörung und Klimawandel. Doch die Reduzierung der Preisproblematik auf Fundamentalfaktoren, wie sie vom neoliberalen Hardliner Schmitz vorgenommen wurde, um Forderungen nach einer Begrenzung von Spekulationsgeschäften abzuschmettern, ist mehr als fadenscheinig.
Grundbegriffe und -prozesse
Bild 1
Foto: CC BY-SA 3.0
Um die kontroverse Diskussion zu verstehen, seien zunächst einige grundlegende Begriffe und Prozesse erläutert. In der Welt des Handels gibt es einerseits »Spotmärkte« (auch Kassamärkte genannt), also Handelsbörsen, wo Angebot und Nachfrage unmittelbar aufeinandertreffen und Gekauftes sofort – »on the spot« – bezahlt wird und den Besitzer wechselt. Hier kommen die »Fundamentalfaktoren« (Ernteausfälle, Produktionskosten usw.) zur Wirkung, die Angebot und Nachfrage bestimmen. Das Gegenstück dazu ist der Terminhandel – ein Phänomen des Finanzmarkts, wo Großhändler zum Beispiel Getreide (das erst noch geerntet werden muß) vorab zu einem Garantiepreis kaufen und sich so gegen eine mögliche zukünftige Preissteigerung absichern. Umgekehrt bieten die garantierten Preise den Produzenten eine Absicherung gegen einen möglichen Preisverfall.

Terminhandel für Getreide gibt es seit Jahrhunderten, in Deutschland seit 160 Jahren. Dieser in einer marktgetriebenen Ökonomie an und für sich sinnvolle Gedanke einer gegenseitigen Absicherung glättete in der Vergangenheit Preisfluktuationen. Schon immer gab es branchenfremde Spekulanten, die versuchten, sich durch Termingeschäfte zu bereichern. Allerdings fielen sie früher, als das Handelsvolumen für Termingeschäfte noch Beschränkungen unterworfen war, nicht übermäßig ins Gewicht. Doch neben der zunehmenden Präsenz der traditionellen Spekulanten existiert seit etwa einem halben Jahrzehnt eine neue Gruppe von Akteuren, sogenannte Indexspekulanten, die darauf setzen, daß in einer Anlageklasse (hier Nahrungsmittel) die Preise insgesamt steigen und die sich durch ein gemischtes Anlageportfolio (= Index, z.B. Weizen, Mais und Soja) Gewinne sichern wollen. In den USA sind mittlerweile branchenfremde Spekulanten der »alten Schule« und Indexspekulanten zu je einem Drittel auf den Terminmärkten für Getreide vertreten, das heißt, sie dominieren diese Märkte.

Als weitere Unsicherheitskomponente kommt der außerbörsliche Handel (Over-the-Counter, OTC) mit Agrarrohstoffen hinzu, dessen fehlende Transparenz in Europa nahezu einhellig beklagt wird.

An dieser Stelle sei der Hinweis gestattet, daß in der neoliberalen Welt von heute beinahe in Vergessenheit geraten ist, daß Hedging und die Regulierung der Termin- und OTC-Märkte nicht die einzigen Möglichkeiten sind, um Preisschocks zu verhindern. Bis zu den vom Weltwährungsfonds diktierten Strukturanpassungsmaßnahmen galten in vielen Ländern des Südens (und bis Ende der 80er Jahre im sozialistischen Lager) für wichtige landwirtschaftliche Produkte und Grundnahrungsmittel staatlich garantierte Aufkauf- und zum Teil auch Verkaufspreise. In diesem Fall nahm der Staat die unmittelbare Verantwortung wahr, übermäßige Preisschwankungen zu verhindern. Heute hingegen sträuben sich die Regierungen der mächtigen Länder allein schon dagegen, Terminmärkte und OTC-Handel einer strikteren Kontrolle zu unterwerfen, um so ihrer Verantwortung zumindest mittelbar gerecht zu werden. Diese Märkte, deren wichtigster die Chicagoer Rohstoffbörse ist, sind seit der Jahrtausendwende zunehmend liberalisiert worden.
Spekulation und ihre Folgen
Im Kern geht die Diskussion um das Verhältnis von Liquidität und Stabilität der Rohstoffmärkte. Marktfundamentalisten wie P. Michael Schmitz bestreiten jegliche Schuld einer Spekulationen an der oben beschriebenen Preisexplosion und insistieren, daß Spekulationsgeschäfte ein unverzichtbarer Bestandteil für die Funktionsfähigkeit von Terminmärkten seien. Nach ihrer Ansicht ist Spekulation die Voraussetzung für Liquidität der Märkte, sprich für die Verfügbarkeit von genügend Geld, um die Wirksamkeit der oben beschriebenen Absicherungsfunktion der Termingeschäfte zu gewährleisten.

Das zweite Argument zur Verteidigung der Spekulation entstammt der »Theorie der effizienten Märkte«, derzufolge die Händler an den Terminmärkten belohnt würden, wenn sie zu Preisen handeln, die die Fundamentaleffekte mehr oder weniger korrekt abbilden, und vom Markt bestraft würden, wenn sie verzerrte Preise verwenden würden. Auf diese Weise würden sich die Preise an den Terminmärkten nicht nur automatisch an die von den Fundamentalfaktoren bestimmten Preise angleichen, sondern sogar eine für die Teilnehmer der physischen Märkte wichtige Vorhersagefunktion ausüben.

Die Theorie der effizienten Märkte ist immer wieder heftig kritisiert worden, angefangen von John Maynard Keynes über Nobelpreisträger wie George Akerlof und Daniel Kahneman bis zu Jayati Gosh. Der wichtigste Kritikpunkt ist die real stattfindende Preisverzerrung, die im harmloseren Fall durch initiale »psychologische« Faktoren bei den Händlern, kombiniert mit dem im Finanzsektor typischen »Herdentrieb«, ausgelöst werden. Im schlimmeren Fall handelt es sich um gezielte Manipulationen durch »Finanzkolosse« wie Goldman Sachs oder die Deutsche Bank.

Wenn man sich das Volumen der Termingeschäfte vor Augen führt, wird deutlich, mit welcher Wucht sich diese Geschäfte auf die realen Preise für Agrarrohstoffe auswirken können. An der Chicagoer Rohstoffbörse, wo etwa 90 Prozent des Terminhandels mit Getreide getätigt wird, überstiegen bereits im Jahr 2002 die Weizentermingeschäfte die physische Weizenproduktion der USA um das Elffache; 2007 war es das 30fache. Dies führt zugleich zu einer verstärkten Volatilität (Schwankungsintensität) der Preise, die nur jenen zugute kommt, die in der Lage sind, kurzfristig zu kaufen und zu verkaufen.

Die Volatilität der Preise für landwirtschaftliche Produkte war bis 2007 relativ konstant und hat sich seitdem drastisch erhöht, auch bedingt durch die höheren Preise an sich. Markus Henn von der Nichtregierungsorganisation WEED (World Economy, Ecology&Development) bringt es auf den Punkt: »Der fundamentale Unterschied ist, daß die den Rohstoffterminmärkten zugrundeliegenden Werte eben physisch begrenzte Rohstoffe sind, die im Leben der Bevölkerung zudem eine überragende Rolle spielen. Schon gar der physische Rohstoffmarkt ist völlig verschieden von einem Finanzmarkt wie dem Aktienmarkt. Wenn der Aktienmarkt eine Spekulationsblase erlebt, ist dies im wesentlichen ein Problem der Anleger. Wenn die Blase auf dem Weizenterminmarkt und dann auf dem Weizenmarkt stattfindet, ist es eine Katastrophe für Millionen Menschen. Deshalb sollte in allen gesetzlichen Maßnahmen der Rohstoffsektor gesondert behandelt und mit besonderer Vorsicht reguliert werden.«4 Und in einem offenen Brief an Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble vom 29. Oktober 2012 äußerten sich die zwölf unterzeichnenden Organisationen dahingehend, daß es »erdrückende Belege dafür (gibt), daß diese exzessive Spekulation die Ausschläge an den Börsen auf die Spitze treibt, die Märkte destabilisiert, die Schwankungen der Lebensmittelpreise auf Rekordniveau hievt und dadurch die Hungerkrise verschärft«. Der Brief wurde veröffentlicht, weil in diesen Wochen Verhandlungen des Europäischen Rats der Finanzminister über eine Regulierung der Rohstoffterminmärkte anstehen.
EU forciert Land Grabbing
Die sichtbaren Nachteile der Agrotreibstoffherstellung führ
Die sichtbaren Nachteile der Agrotreibstoffherstellung führen zu keinem Politikwechsel. Investoren sehen ihren Kapitaleinsatz in Gefahr (­Palmöl-Papier-Fabrik in Indien, 2008)
Foto: Greenpeace
Auch wenn Gosh und Henn zu der Erkenntnis kommen, daß der eigentliche Grund für die Preis­explosion die Spekulation ist und nicht, wie von der Weltbank eingeschätzt, der Agrotreibstoffboom, so sollte die perspektivische Rolle der Agrotreibstoffe für den Preisauftrieb nicht unterschätzt werden. Unstrittig ist die »Katalysatorwirkung« der Agrotreibstoffe beim globalen Land Grabbing (Landnahme). In der Tat sind Agrotreibstoffe eine der vier wesentlichen Kräfte, die den Kauf und die Pacht riesiger Flächen in den Ländern des Südens (und Osteuropas) vorantreiben. Inzwischen wird über ein Drittel der vom globalen Land Grabbing betroffenen Flächen für Agro­treibstoffe genutzt bzw. sind sie für diesen Zweck reserviert.

Vor vier Jahren war die Erzeugung von Nahrungsmitteln das Motiv für die Offshore-Produk­tion. Der spekulationsbedingte Preisanstieg und die erhöhte Volatilität der Preise für Agrarrohstoffe veranlaßten finanzstarke Länder mit prekärer Eigenversorgung (China, Südkorea, Golfstaaten), nach vom Weltmarkt unabhängigen Möglichkeiten der Versorgung der eigenen Bevölkerung zu suchen. Dies stand nach dem Preisschock von 2008 im Vordergrund. Zugleich sollte zur Kenntnis genommen werden, daß Europa einen der vordersten Plätze einnimmt, was Agrarimporte im weitesten Sinne anbelangt. Einer Studie des internationalen Zusammenschlusses von Umweltschutzorganisationen Friends of the Earth zufolge liegen nahezu 60 Prozent der Landfläche zur Deckung des derzeitigen europäischen Bedarfs an land- und forstwirtschaftlichen Produkten außerhalb Europas – Tendenz steigend. Denn nach Berechnungen, die im Auftrag der Europäischen Kommission durchgeführt wurden, ist für 2020 zu erwarten, daß 21 Prozent des Agrodiesels aus Soja und Palmöl und 50 bis 90 Prozent des Agrosprits aus Zuckerrohr gewonnen werden. Hierbei handelt es sich um Pflanzen, deren Anbau in Europa nicht möglich ist bzw. – im Fall von Soja – wirtschaftlich keine Rolle spielt.

Grundlage dieser Berechnungen waren die Festlegungen der EU-Direktive zu erneuerbaren Energien aus dem Jahr 2009 (2009/28/EG), derzufolge ab 2020 in der EU ein Fünftel des gesamten Energieverbrauchs und ein Zehntel des Kraftstoffverbrauchs durch Agrotreibstoffe zu decken sind. Inzwischen kaufen oder pachten in viel stärkerem Maße private Investoren Ländereien, weil sie auf weitere Steigerungen bei den Lebensmittel- und Bodenpreisen und auf Gewinne bei dem Geschäft mit Agrotreibstoffen hoffen. Insofern kann man sagen, daß Land Grabbing, Agrotreibstoff-Boom und Lebensmittelspekulation sich gegenseitig verstärkende Prozesse sind.
Lobby gegen Marktkorrekturen
Welche wirtschaftlichen Interessen dahinter stehen, wurde Anfang September deutlich, als ein Gesetzentwurf der Europäischen Kommission bekannt wurde, der eine Kurskorrektur bei der EU-Direktive zu den erneuerbaren Energien vorsieht. Am 17. Oktober wurde dieser Gesetzentwurf von der Europäischen Kommission offiziell veröffentlicht. Laut diesem Entwurf soll der Anteil von Agrotreibstoffen im Transportsektor bis 2020 nur auf fünf statt auf zehn Prozent steigen. Dies rief sofort heftige Reaktionen seitens verschiedenster Lobbyorganisationen hervor, allen voran der European Biodiesel Board (EBB), der nach eigener Darstellung drei Viertel der Agro­treibstoff-Industrie repräsentiert. In seinem am 13. September 2012 veröffentlichten Positionspapiers hebt der EBB hervor, daß der Schwenk in der EU-Politik »den Tod des gesamten ­EU-Biodieselsektors« und damit den Verlust von 450000 Arbeitsplätzen sowie vieler Milliarden Euro an Investitionen bedeuten würde. Das nennt man eine sich selbst erfüllende Prophezeiung: Aufgrund strategischer Überlegungen (langfristige Absicherung von Europas exzessivem Energiebedarf) wurden die seit langem bestehenden Bedenken bezüglich der sozialen und ökologischen Verträglichkeit von Agrotreibstoffen vom Tisch gefegt.

Ignoriert wurden unter anderem zahlreiche Studien darüber, daß eine große Lücke zwischen den versprochenen und den tatsächlich erreichbaren CO2-Einsparungen klafft, obwohl gerade dieser Aspekt des öffentlichen Diskurses im Vordergrund steht – getrieben von der Motivation, die Kohlendioxidbilanz des nach wie vor steigenden Kraftstoffverbrauchs in der EU schönzurechnen. Statt diesen Studien Beachtung zu schenken, wurden »viele Milliarden Euro« investiert, die nun als Argument dafür dienen, daß ein Kurswechsel nicht mehr möglich sei. Mehr noch, der EBB fordert ein, den Termin der für Ende 2014 festgelegten Überprüfungsklausel zu respektieren (2009/28/EG, Artikel 23 Absatz 8). Mit anderen Worten: Es sollen zwei weitere Jahre herhalten, um mit dem Umfang der bis dahin noch zu tätigenden Investitionen die Unumkehrbarkeit der gegenwärtigen Politik bei den »Bio«kraftstoffen weiter zu zementieren.

Fehlende Kohärenz ist das bewußt gewählte, wenngleich verbal bestrittene Markenzeichen der Politik von EU und Bundesregierung. In unterschiedlichsten Bereichen steht die politische Praxis zur Sicherung wirtschaftlicher Interessen im Widerspruch zu den offiziell erklärten Zielen der Armutsbekämpfung in den Ländern des Südens. Mit Hilfe von unverbindlichen Richtlinien und freiwilligen Selbstverpflichtungen wird versucht, diese Widersprüche diskursiv zu übertünchen. Das trifft für den von der Weltbank favorisierten Code of Conduct zu einem »verantwortungsbewußten Land Grabbing« ebenso zu wie für irreführende Zertifizierungssysteme von Agro­treibstoffen (Roundtable for Sustainable Palm Oil; Roundtable for Responsible Soy).

Wenn der öffentliche Druck noch nicht groß genug oder der Sachverhalt schwer verständlich ist (wie im Fall der Lebensmittelspekulationen), reicht es unter Umständen aus, einfach falsche Behauptungen in die Welt zu setzen. So »beweist« P. Michael Schmitz in seinem oben zitierten Gutachten, daß Nahrungsmittelspekulation ein Phantom sei, unter anderem mit der Behauptung, daß die Agrarpreise im Jahr 2009 »in den Keller« gefallen seien. Ein flüchtiger Blick auf den Nahrungsmittelpreisindex der Welternährungsorganisation (siehe Grafik) zeigt, daß der Wert von 2009 keineswegs gesunken ist, sondern sich auf Rang drei in der Datenreihe von 2000 bis 2009 befindet, also nahezu identisch mit dem Wert von 2007 ist.

Zunächst sollte man sich also, nicht für dumm verkaufen lassen. Wenn darüber hinaus durchdachte Initiativen breite Unterstützung finden und einen ausreichend langen Atem haben, ist es auch möglich, Erfolge zu erzielen. So haben die Kampagnen entwicklungspolitischer Organisationen und globalisierungskritischer Gruppen sowie die große Zahl fundierter Studien zum Thema Nahrungsmittelspekulation inzwischen Wirkung gezeigt. Die Deka-Bank war im Frühjahr 2012 die erste Bank, die verkündete, ihre Termingeschäfte mit Agrarrohstoffen einzustellen. Ihr folgten im Verlauf des Jahres die Landesbank Baden-Württemberg, im August Deutschlands zweitgrößtes Finanzinstitut, die Commerzbank, und danach die Landesbank Berlin. Geldinstitute wie die Ethikbank Eisenberg und die GLS-Bank beteiligten sich nie an solch schmutzigen Geschäften. »Bleiben noch zwei große Brocken, die weitermachen wie bisher«, schreibt die Nichtregierungsorganisation Oxfam auf ihrer Website und meint damit die Deutsche Bank (die im vorigen Jahr versuchte, einen Dokumentarfilm zum Thema zu zensieren) und der weltgrößte Versicherungskonzern, die Allianz.

Anmerkungen

1 Klaus Pedersen: Die weltweiten Hungerrevolten (Food Riots) 2007/2008, in: Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Dezember 2008, S. 42–50

2 Siehe Bundestag-Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Öffentliche Anhörung vom 27.6.2011: Spekulationen mit agrarischen Rohstoffen verhindern

3 Jayati Gosh u.a.: Speculation on Commodities Futures Markets and Destabilization Of Global Food Prices: Exploring the Connections. PERI Working Paper Series No. 269, Oktober 2011, Univeristy of Massachusetts

4 Markus Henn (WEED), in: siehe Anmerkung 2

Peter Clausing ist Beiratsmitglied der Informationsstelle Militarisierung e.V.

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