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Luftattacken auf Gaza
Von Karin Leukefeld, Damaskus
Bestattung eines bei den israelischen Luftangriffen getötet
Bestattung eines bei den israelischen Luftangriffen getöteten Mädchens am Donnerstag in Gaza-Stadt
Foto: dpa
Nach der gezielten Tötung des Hamas-Militärchefs Ahmad Al-Dschabari hat Israel am Donnerstag den zweiten Tag in Folge Dutzende Luftangriffe auf den Gazastreifen geflogen, während der militärische Flügel der Hamas bis Donnerstag nachmittag mehr als 100 Raketen auf den Süden Israels abfeuerte. In dem Dorf Kirjat Malahi wurden dabei drei Israelis getötet, vier weitere Personen wurden verletzt. Die israelische Luftwaffe flog nach eigenen Angaben seit Mittwoch nachmittag rund 150 Angriffe auf den Gazastreifen. Dabei wurden nach palästinensischen Angaben bis Donnerstag mittag mindestens 15 Palästinenser getötet, darunter mehrere Kinder und eine schwangere Frau. Mehr als 110 Palästinenser wurden verletzt.
Ahmad Al-Dschabari war am Mittwoch bei einem gezielten israelischen Raketenangriff mitten auf einer belebten Straße in Gaza-Stadt getötet worden. Neben Al-Dschabari starben mindestens 13 weitere Personen, mehr als 100 wurden verletzt.
Der UN-Sicherheitsrat war noch am Mittwoch abend auf Antrag von Ägypten, Marokko und den Palästinensern zu einer Dringlichkeitssitzung zusammengekommen, die eine klare Verurteilung Israels für die Aggression forderten. Der palästinensische UN-Botschafter Rijad Mansur prangerte den Tod von Frauen und Kindern bei den israelischen Angriffen an. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hatte am Mittwoch gedroht, sein Land sei bereit, den Einsatz auszuweiten und eine Bodenoffensive gegen den Gazastreifen zu starten. Die US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen, Susan Rice, betonte das Recht Israels auf »Selbstverteidigung«. In diesem Jahr seien bereits 768 Raketen von Gaza aus abgefeuert worden, zählte sie auf. Zu einer Verurteilung Israels kam es erwartungsgemäß nicht.
Ägypten, das als einer von zwei arabischen Staaten mit Israel einen Friedensvertrag unterzeichnet hat, zog aus Protest seinen Botschafter aus Israel ab. Der ägyptische Außenminister Kamel Amr forderte Washington auf, Israels Aggression gegen die Palästinenser zu stoppen. Der israelische Botschafter in Kairo bereitete sich auf seine Abreise vor.
Die Hamas kündigte Vergeltung an, der Mord an Al-Dschabari habe für Israel »die Tore zur Hölle« geöffnet, hieß es in einer Stellungnahme der Al-Kassam Brigaden, die die Entsendung von Selbstmordattentätern nach Israel ankündigte. »Die Besatzungsmacht« habe »alle roten Linien überschritten«, das verstehe man als »Kriegserklärung«. Am Donnerstag wurde sowohl im Gazastreifen als auch im Süden Israels der Ausnahmezustand ausgerufen.
Die israelische Organisation Gush Shalom (Frieden Jetzt) mobilisierte ihre Anhänger zu Demonstrationen in Tel Aviv und Haifa gegen den Krieg in Gaza. Der ehemalige Knessetabgeordnete und Friedensaktivist Uri Avnery warf der Regierung Netanjahu vor, auf »das Vergessen« der Bevölkerung zu setzen. Man habe aber nicht vergessen, daß die israelische Armee »erst vor vier Jahren Krieg gegen den Gazastreifen führte und 1300 Zivilisten in drei Wochen tötete«.
Sabine Farrouh vom Vorstand der Organisation Internationale Ärzte für die Verhütung von Atomkriegen (IPPNW) forderte, die Bundesregierung müsse »alle Waffenlieferungen in die Region« einstellen. Eine »von Waffen starrende Sicherheit ist keine«.
17.11.2012 / Titel / Seite 1Inhalt
Israel eskaliert Krieg
Von Karin Leukefeld, Damaskus
Bombenexplosion im Gazastreifen: Hunderte Luftangriffe flog Isra
Bombenexplosion im Gazastreifen: Hunderte Luftangriffe flog Israel bis Freitag
Foto: dpa
Mit zahlreichen Angriffen hat Israel seinen Krieg gegen den Gazastreifen fortgesetzt. Die Zahl der Luftattacken der Operation »Säulen der Verteidigung« erhöhte sich bis Freitag morgen auf 460. Gleichzeitig berief die Armeeführung 16000 Reservisten ein; eine Bodenoffensive sei eine von vielen Optionen, sagte Armeesprecherin Avita Leibovich. Panzer und Truppentransporter wurden im Grenzgebiet stationiert, auch die Marine beteiligte sich an den Militärschlägen auf den dicht besiedelten palästinensischen Küstenstreifen.
Ministerpräsident Benjamin Netanjahu drohte mit einer »signifikanten Ausweitung« des Krieges. Israel werde alles Nötige tun, um sich zu verteidigen, sagte er. Ein BBC-Korrespondent berichtete von zerstörten Regierungsgebäuden wie dem Innenministerium der Hamas inmitten von Wohngebieten in Gaza-Stadt, unmittelbar neben einer Schule. Der Sprecher der UN-Organisation für die Palästinensischen Flüchtlinge (UNRWA), Chris Gunnes, informierte die britische BBC über den Tod eines Mitarbeiters im Norden des Gazastreifens. Der UNWRA-Lehrer wollte seinen Bruder evakuieren, als ihr Fahrzeug bei einem israelischen Luftangriff getroffen wurde.
Das palästinensische Gesundheitsministerium im Gazastreifen gab die Zahl der Toten bisher mit 20 an. Mehr als 230 Personen wurden verletzt. Die Khassam-Brigaden und andere militante Gruppen aus dem Küstenstreifen feuerten in den letzten drei Tagen mehr als dreihundert Raketen auf den Süden Israels ab, drei Menschen kamen dabei ums Leben. Raketenalarm gab es auch in der israelischen Wirtschaftsmetropole Tel Aviv. Auch im Großraum Jerusalem schlug eine Rakete ein. Die Hamas kündigte an, Raketen vom Typ Fadschr 5 aus iranischer Produktion (Reichweite 75 km) gegen Israel einzusetzen.
Eine für Freitag morgen – Beginn des islamischen neuen Jahres – vereinbarte dreistündige Waffenruhe hatte nicht gehalten. Beide Seiten beschuldigten sich gegenseitig, die Vereinbarung gebrochen zu haben. Der ägyptische Ministerpräsidenten Hisham Kandil besuchte am Freitag morgen das Shifa-Krankenhaus in Gaza-Stadt, wo während seines Aufenthaltes zwei weitere Todesopfer eingeliefert wurden. Der Angriff Israels auf den Gazastreifen sei eine »Katastrophe«, so Kandil. Der ägyptische Präsident Mohammed Mursi bezeichnete die israelischen Luftschläge als »unverhüllten Angriff auf die Menschlichkeit«. Am heutigen Samstag wird der tunesische Außenminister in Gaza-Stadt erwartet.
Vor der Al-Azhar-Moschee in Kairo demonstrierten am Freitag Tausende Gläubige gegen die israelische Luftoffensive. Auch in palästinensischen Flüchtlingslagern im Libanon kam es zu Protesten. Hisbollah-Führer Hassan Nasrallah rief die arabischen Staaten zum Handeln auf. Niemand erwarte zur Hilfe der Palästinenser Armeen, Panzer oder Flugzeuge, aber »senkt Euren Ölexport oder erhöht die Preise etwas, und Ihr werdet die USA und Europa erschüttern«, erklärte Nasrallah.
Bundeskanzlerin Angela Merkel machte die Hamas für die militärische Eskalation verantwortlich. Es gebe keine Rechtfertigung für den Abschuß von Raketen, die die israelische Zivilbevölkerung bedrohten, ließ Merkel Regierungssprecher Georg Streiter mitteilen.
Antikriegsdemonstration in Berlin am Sonntag, 14 Uhr, vom Hermannplatz zum Kottbusser Tor
19.11.2012 / Ansichten / Seite 8Inhalt
Altbekanntes Muster
Gastkommentar. Gewalteskalation im Gazastreifen
Von Moshe Zuckermann
Jeder neue kriegerische Gewaltausbruch zwischen Israelis und Palästinensern hat sein Spezifisches, und doch reproduziert sich in ihm stets ein bereits bekanntes Muster von Absehbarem. Nicht, daß man im einzelnen konkret wüßte, worauf man sich einläßt, wenn man sich den Zwängen des Musters unterwirft, aber niemand darf wirklich überrascht sein, daß die Gewalt sehr bald eskaliert; daß man meint, mit der Eskalation eine »Entscheidung« zu erzwingen; daß man dann zur Erkenntnis gelangt, daß nichts erzwungen werden konnte, das Pathos von Ideologie und Propaganda dafür aber eine umso deutlichere Steigerung erfahren hat; daß man also wieder viel Tod, Zerstörung und Leid verantwortet hat, ohne auch die geringste Grundlage dafür gelegt zu haben, daß es nicht früher oder später zur nächsten Runde der Gewaltorgie kommt.
Die kindische Frage, wer (diesmal) »angefangen« habe, erweist sich dabei immer wieder als irrelevant, denn ihre Beantwortung hängt davon ab, wo man den Anfang ansetzt. Wer die Ursache für die je ausgebrochene Gewalt im Terror der Hamas sieht, wird sich fragen lassen müssen, wie es zu dieser Terroraktivität gekommen ist; ja, wie es überhaupt dazu kam, daß die Hamas die Herrschaft im Gazastreifen erlangte, vor allem aber, welchen gravierenden Anteil die israelische Politik am Zustandekommen der gegenwärtigen Konstellation im Gazastreifen hatte.
Umso dringlicher erscheint es beim gegenwärtigen Gewaltausbruch, das Augenmerk auf eine Äußerung des israelischen Friedensaktivisten Gershon Baskin zu richten. In der Tageszeitung Haaretz legte er dar, daß die gezielte Liquidierung des militärischen Hamas-Führers Ahmad Al-Dschabari kurz nach dem Erhalt eines Entwurfs zu einem vom ägyptischen Geheimdienst mitgeförderten dauerhaften Waffenstillstandsabkommen zwischen Hamas und Israel stattfand. Israels offizielle Instanzen hätten davon gewußt und dennoch der Liquidierungsaktion stattgegeben. Al-Dschabari, so Baskin, sei »kein Engel und kein Friedensapostel« gewesen. Aber gerade er habe bei den Unterhandlungen zur Befreiung Gilad Shalits und zum in pragmatischem Zweckdenken gründenden Waffenstillstandsabkommen eine zentrale Rolle gespielt.
Und darin liegt der Wahrheitskern der diesmaligen, sich zugleich als Grundmuster reproduzierenden Aggression: Israel will die Ruhe an den Grenzen, nicht aber die für die Herstellung einer dauerhaften Ruhe unabdingbaren Erfordernisse erfüllen. Es will die Okkupation betreiben, ohne dafür je belangt zu werden. Es will den von der Hamas beherrschten Gazastreifen strangulieren und zugleich die ruhige Hinnahme der Strangulation fordern dürfen. Es will schlicht und ergreifend den Frieden nicht. So hat es sich in den letzten Jahrzehnten immer wieder verhalten, wenn es historisch darauf ankam. So gebärdet es sich dezidierter denn je unter seiner gegenwärtigen Regierung. Und so, steht es zu befürchten, wird es bei den im Januar anstehenden Wahlen wieder handeln. Der gegenwärtige Gewaltausbruch wird das Seine dazu beitragen, dies verfestigend zu garantieren.
Prof. Dr. Moshe Zuckermann lehrt Geschichte und Philosophie an der Universität Tel Aviv
Stimme des Widerstands
Grußbotschaft der Organisation »Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost« an das Weltsozialforum in Porto Alegre in Brasilien:
Das Weltsozialforum ist eine Stimme des Widerstands gegen Unterdrückung und für Gerechtigkeit und Gleichheit. Für eine weltweite Organisation ist es nie einfach, einen Fokus zu wählen, für den es sich einzusetzen lohnt, da es Tausende von wichtigen Anliegen gibt: die Kämpfe von Ureinwohnern, von ausgebeuteten Arbeitern, landlosen Bauern, Opfern von Zerstörung der Lebensgrundlagen durch den Klimawandel und die Kämpfe aller, die aufgrund ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Orientierung, ihrer Glaubenszugehörigkeit, ihrer Nationalität oder ihrer politischen Überzeugung Verfolgung erleiden.
Dieses Jahr hat das Weltsozialforum entschieden, sich auf den Kampf der Palästinenser gegen den Kolonialismus und die Apartheidpolitik des israelischen Staates zu konzentrieren. Es ist ein lohnenswerter Kampf, und wir beglückwünschen das Weltsozialforum zu seiner Entscheidung. Das Weltsozialforum Freies Palästina wird vom 28. November bis 1. Dezember 2012 in Porto Alegre, Brasilien, zusammentreten.
Die Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost (Jewish Voice for a Just Peace in the Middle East, EJJP Germany) unterstützt das Treffen und erklärt sich mit den Zehntausenden von erwarteten Teilnehmern und den Hunderten von teilnehmenden Organisationen und Bewegungen solidarisch.
Wir meinen, daß das Weltsozialforum eine überzeugende und klare Antwort auf die schändliche Apathie und Gleichgültigkeit gegenüber der Ungerechtigkeit in Palästina darstellt, deren sich die Politiker des globalen Nordens, die Mainstreammedien und die großen Unternehmen dieser Welt schuldig machen. Angesichts der jüngsten unverhältnismäßigen und brutalen Bombardierung des Gazastreifens und der außergerichtlichen Hinrichtung von Ahmad Dschabari ist es umso drängender, vom Weltsozialforum Freies Palästina aus die Wahrheit über die Besatzung zu verbreiten.
Als Juden ist es uns wichtig, den Mißbrauch der jüdischen Identität durch Israel bei der Unterdrückung Palästinas zurückzuweisen. Zu den Verbrechen Israels sagen wir als Juden: »Nicht in unserem Namen!« Unsere Organisation ist davon überzeugt, daß alle Menschen ein Recht auf Würde und gleichberechtigte Behandlung haben und ihre Freiheit unbeschadet von Nationalität, Religion oder ethnischer Zugehörigkeit Respekt verdient.
Als europäische Staatsbürger sind wir bestürzt über die Unterstützung Europas (und insbesondere Deutschlands) für Israel. Israels eklatante Mißachtung des Völkerrechts und der Menschenrechte in Palästina wäre ohne die jahrzehntelange Unterstützung der europäischen Länder und der Europäischen Union durch bevorzugte Handelsabkommen, militärische Koordination und Waffenlieferungen sowie durch eine himmelschreiende Heuchelei in den rechtlichen und politischen Beziehungen mit Israel nicht möglich gewesen.
Deswegen fühlen wir uns verpflichtet, uns gegen die Beteiligung unserer Regierungen an den in Palästina begangenen Greueltaten auszusprechen, und wir danken den Organisatoren und Teilnehmern des Weltsozialforums, daß sie dazu beitragen, den Kampf der Palästinenser und die Ursachen für diesen Kampf ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen.
Vermittlung wichtig
Wolfgang Gehrcke, Mitglied im Vorstand der Fraktion Die Linke im Bundestag, erklärte am Dienstag zur Nahostreise von Bundesaußenminister Guido Westerwelle:
Wer wirklich ernsthaft vermitteln will, muß ein verläßlicher Makler für alle Seiten sein. (…) Westerwelle müssen bei der Feststellung des ehemaligen palästinensischen Missionsleiters in Deutschland, Abdallah Franghi, daß seine Nahostreise »kein Gewicht« mit sich bringe, wenn er so »einseitig pro-israelisch« handelt, die Ohren geklingelt haben.
Dennoch bleibt Vermittlung wichtig. Aktuell muß alles auf einen sofortigen und bedingungslosen Waffenstillstand konzentriert werden, der von beiden Konfliktseiten akzeptiert wird. Unabhängig davon kann die deutsche Nahostpolitik an Gewicht gewinnen, wenn sie in der Vollversammlung der Vereinten Nationen eindeutig für den palästinensischen Antrag auf einen Beobachterstatus votiert.
(…) Westerwelle findet »klare Worte« gegenüber den Palästinensern, vermeidet aber klare Worte gegenüber Israel. Wer so agiert, kann kein Vermittler sein.
Nothilfemaßnahmen
Die Hilfsorganisation Medico international ruft zu Spenden für die Palästinenser in Gaza auf:
»Ich will nur, daß dieser Wahnsinn aufhört«, so die medico-Projektpartnerin Majeda Al-Saqqa vom »Zentrum für Kultur und Freiheit des Denkens« (CFTA), die im Gazastreifen unter anderem für Frauen und junge Mädchen Gesundheits- und psychosoziale Projekte durchführt. Majeda Al-Saqqa weiß, wovon sie spricht, nicht nur aus eigenem Erleben. Sie arbeitet in einem der dicht besiedeltsten Orte des Gaza-Streifens, in der Flüchtlingsstadt El-Burrej. Hier wie im ganzen Gazastreifen gibt es keine Möglichkeiten, sich vor den israelischen Bombenangriffen zu schützen. Die Angst ist allgegenwärtig, auch in sogenannten Friedenszeiten, da immer wieder israelische Drohnen über dem Gebiet kreisen. (…)
Eine Klinik des medico-Projektpartners Palestinian Medical Relief Society (PMRS) wurde durch die aktuellen israelischen Angriffe beschädigt. Medico international liefert derzeit Medikamente in den Gazastreifen und unterstützt die psychosoziale Arbeit von CFTA. (…) Für diese Nothilfemaßnahmen im Zusammenhang mit der kriegerischen Eskalation im Gazastreifen bitten wir dringend um Spenden.
www.medico.de
der Freitag Politik
Uri Avnery
22.11.2012 | 08:00 10
Die Mutter aller Entscheidungen
Israel/Gaza Eine Alternative zur Eskalation in Nahost gibt es längst: Wenn es sein muss, reden Isrealis und Palästinenser schon miteinander – der Fall Gilat Shalit hat das gezeigt
Die Mutter aller Entscheidungen
Premier Netanjahu und Hamas-Chef Maschal werden sich irgendwann arrangieren müssen
Foto: Montage Der freitag/Material Getty Images/fotolia
Wer hat angefangen? Eine dumme Frage. Konflikte entlang des Gazastreifens beginnen nicht. Sie sind eine anhaltende Kette von Vorfällen, von denen behauptet wird, sie seien nur „Vergeltungen“ für den letzten Vorfall. Einer Aktion folgt eine Re-Aktion, der wieder eine Vergeltung folgt.
Der jüngste besondere Vorfall begann mit einer Antipanzerrakete aus Gaza, die ein Patrouillenfahrzeug auf der israelischen Seite des Grenzzauns traf – die Vergeltung für das Töten eines Fußball spielenden Palästinensers einige Tage zuvor. Die Rakete führte in Gaza zu Demonstrationen des Stolzes – Palästinenser hatten bewiesen, den Feind treffen zu können.
Der gezielte Schuss über die Demarkationslinie hinweg – ob auf Befehl von Hamas oder einer anderen Organisation – kam dem Überschreiten einer roten Linie gleich. Es folgte eine israelische Reaktion, indem Panzer Granaten in den Gazastreifen feuerten. Hamas antwortete mit Raketen, sodass Tausende Israelis in Schutzkeller eilten. Wie üblich traten die Ägypter in Aktion und arrangierten hinter den Kulissen eine Feuerpause. Es schien so, als wollte die israelische Seite darauf eingehen. Premier Benjamin Netanjahu und Verteidigungsminister Ehud Barak zeigten sich an der Grenze zu Syriens, als wollten sie sagen: Wir denken momentan nicht an Gaza.
Auch dort atmete man auf. Es gab Entwarnung, Menschen verließen ihre Häuser, der oberste Hamas-Kommandeur Ahmad Ja’abari stieg in seinen Wagen und fuhr die Hauptstraße entlang. Und dann schnappte die Falle zu. Sein Fahrzeug wurde von einer Rakete aus der Luft getroffen.
Hamas maximal treffen
Ein solcher Anschlag geschieht nicht spontan, sondern nach monatelanger Vorbereitung, während der man Informationen sammelt und auf den rechten Moment wartet, ihn auszuführen, ohne viele Unbeteiligte zu töten und einen internationalen Skandal auszulösen. Eigentlich sollte das Attentat einen Tag früher stattfinden, wurde aber wegen schlechten Wetters verschoben. Der Getötete war unbestritten eine Führungsfigur der Hamas in Gaza. Ja’abari sorgte dafür, dass die Israelis jahrelang vergeblich nach dem Versteck des gefangenen Soldaten Gilat Shalit suchten. Als der am 18. Oktober 2011 an die Ägypter übergeben wurde, ließ sich Ja’abari dabei fotografieren.
Nun wurde seine Leiche aus einem ausgebrannten Wagen gezogen, und es waren die Israelis, die jubilierten – die gezielte Tötung war der Startschuss für ihre Militäraktion. Denn der Gazastreifen ist voller Raketen, von denen einige inzwischen in der Lage sind, Tel Aviv zu erreichen. Der Geheimdienst hat ihre Standorte sondiert. Sie zu treffen war Zweck der Operation „Säule der Verteidigung“. Der Name bezieht sich auf: „Und der Herr ging vor ihnen her am Tage in einer Wolkensäule, um sie auf den rechten Weg zu führen“ (Exodus 13,21).
Was wir in den letzten Tagen erlebt haben, war nicht die Wiederholung des Gaza-Einmarschs vom Dezember 2008. Denn die Armee hat aus Misserfolgen gelernt. Diese Intervention wurde zwar seinerzeit als großer Erfolg gefeiert, war aber in Wirklichkeit eine Katastrophe. Soldaten in ein dicht bevölkertes Gebiet zu schicken, das hieß, große Verluste unter der Zivilbevölkerung zu verursachen und Kriegsverbrechen zu begehen. Die Reaktion der Welt war desaströs, der politische Schaden für Israel immens. Der damalige Generalstabschef Gabi Ashkenazi wurde weithin gelobt – tatsächlich war er ein ziemlich primitiver Militär. Sein Nachfolger Benny Gantz ist von anderem Kaliber. Bisher wurden denn auch grandiose Statements vermieden. Das Ziel sei es – heißt es diesmal – die Hamas mit einem Minimum an zivilen Opfern maximal zu schaden. Doch was hätte sich an der Grundsituation geändert, wäre das gelungen?
Ahmad Ja’abari wird ersetzt. Israels Geheimdienste haben Dutzende arabischer Führer umgebracht. Damit es verbindlicher klang, sprach man lieber von „vorbeugenden Maßnahmen“ oder „gezielten Eliminierungen“.
Der Emir in Gaza
Manchmal hat man den Eindruck, die gezielten Tötungen stünden als Tat an sich. Was danach geschieht, ist Nebensache. Was folgte daraus? Man schaltete den Hisbollah-Führer Abbas al-Moussawi aus und erhielt an seiner Stelle den weit intelligenteren Hassan Nasrallah. Man streckte den Hamas-Gründer Sheik Ahmad Yassin nieder, der ebenfalls durch fähigere Männer ersetzt wurde. Wer beerbt Ja’abari? Wird er einen anderen Kurs verfolgen als der Getötete? Anders gefragt: Lassen sich die Fortschritte von Hamas weiterhin durch Gewalt stoppen?
Eher wird das Gegenteil eintreten. Erst Ende Oktober gab es für die Hamas einen diplomatischen Durchbruch, als ihnen der Emir von Katar als erstes arabisches Staatsoberhaupt einen Besuch abstattete. Jetzt kam sogar Ägyptens Premier mitten im Krieg. Die Operation „Säule der Verteidigung“ hat alle arabischen Länder gezwungen, sich mit der Hamas zu identifizieren oder so zu tun. Und Hamas konnte die Behauptung extremistischer Gruppen in Gaza widerlegen, die Führung sei zu gemäßigt und genieße die Früchte des Regierens. Stattdessen haben diese radikalen Palästinenser einen weiteren moralischen Sieg über Mahmud Abbas errungen. Dessen Sicherheitskooperation mit Israel wirkt im Moment eher widerwärtig.
Gab es eine Alternative zur Eskalation? Es gibt eine Menge. Zunächst könnte man sich vom „Re-agieren“ verabschieden und mit Hamas als der De-Facto-Regierung des Gazastreifens reden. Man tat es, als wegen der Entlassung von Gilat Shalit verhandelt wurde. Warum nicht – zusammen mit Ägypten – nach einem Modus Vivendi suchen und zu einer Hudna finden? In der arabischen Kultur ist die Hudna eine verbindliche, von Allah geheiligte Waffenruhe, die viele Jahre hält. Eine Hudna kann nicht verletzt werden. Sogar die Kreuzfahrer schlossen mehrmals Hudnas mit ihren muslimischen Feinden.
Unmittelbar nach dem Anschlag auf den Kommandeur der Kassam-Brigaden berichtete der Friedensaktivist Gershon Baskin, der 2011 an den Verhandlungen zur Befreiung Shalits beteiligt war, dass er bis zum letzten Tag Kontakt mit Ja’abari hatte. Der sei an einer langfristigen Waffenruhe interessiert und die Israelis darüber informiert gewesen. Die Hamas hat mehrfach erklärt, sie würde ein durch die PLO geschlossenes Friedensabkommen mit Israel respektieren, das einen palästinensischen Staat in den Grenzen von 1967 vorsieht. Kommt es dazu nicht, wird das Blutvergießen von dieser in die nächste Runde gehen.
Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs
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