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#1

"ich habe alles"

in alles Andere 29.08.2012 10:34
von Lisadill • 744 Beiträge

Ich habe alles
Wo bitte geht’s zum Kein-Ort? Gesellschaftliche Gegenentwürfe im Dokfilm »Pfade durch Utopia«
Von Laura Einhorn

Arbeitslohn? Grundversorgung! Agrarkommune Can Masdeu bei Barcelon
Utopie bedeutet nirgendwo. Es ist griechisch und bedeutet nirgendwo! Nirgendwo!« schimpft ein Alter im schwarzen Mantel auf einem Sofa. Seine Jogginghose ist abgetragen, er hat kaum noch Zähne im Mund. Haare wuchern auf dem Kopf und im Gesicht. »Nirgendwo!« Er wiederholt es noch einmal. Recht hat er. Vor etwa 500 Jahren entwarf der englische Staatsmann Thomas Morus »Utopia« als ideales Gesellschaftsmodell ohne Privateigentum. Alle Güter sind gerecht verteilt, niemand hungert oder lebt im Luxus. Weil Morus nicht annahm, daß es diesen Staat jemals geben würde, taufte er ihn »Kein-Ort«. War er Realist oder Pessimist? Realist, würde der Alte sagen. Er lebt in der autonomen Kommune Christiania (Kopenhagen), wo es mit der Abschaffung des Privateigentums zu seinem Verdruß nicht weit her ist.

Pessimist, würde Juan Manuel Sánchez Gordillo antworten, Bürgermeister der 2800-Einwohner-Gemeinde Marinaleda in Andalusien. Es mutet wie ein postpostmodernes Märchen an: 1979 errang der Kopf der antikapitalistischen Partei CUT-BAI die Mehrheit im Gemeinderat. Die Bauern gingen damals noch für den Franco-General und Herzog El Infantado auf die Felder. Sie besetzten diese, traten in Hungerstreiks – nach zwölf Jahren Kampf wurden ihnen die Böden übereignet. Sie bewirtschaften sie nun selbst. Die in der BRD so unerreichbare Vollbeschäftigung ist in die Tat umgesetzt.

Anfang August dirigierte Sánchez Gordillo die Plünderung eines lokalen Supermarkts. Die Waren wurden an mittellose Familien in einem besetzten Wohnblock verteilt. Dafür erhielt er im Einheitsbrei der westlichen Berichterstattung einige zynische Aufmerksamkeit (Welt, Spiegel: »Der andalusische Robin Hood«). Sánchez Gordillo sieht in die Kamera: »Die Linke muß sich so weit links wie möglich positionieren und deshalb nicht weniger als das Utopische anstreben, nicht im Sinne einer Schimäre, sondern als das Recht der Menschen auf ihre Träume, ihr Recht, Träume wahr zu machen, indem sie für sie kämpfen.« Ein sympathischer älterer Herr mit kariertem Hemd und Bart, der die Verbundenheit mit der Natur oder Marx anzeigt. Wahrscheinlich beides.

Christiania und Marinaleda sind zwei Stationen einer Europareise, die der Engländer John Jordan und die Französin Isabelle Fremeaux unternommen haben. »Pfade durch Utopia« heißt ihr daraus entstandener Dokfilm, der gerade durch die Kinos tourt und auf DVD im Nautilus-Verlag mit einem gleichnamigen Buch erschienen ist. Jordan und Fremeaux waren auch im kleinen serbischen Ort Zrenjanin. Wie mittlerweile überall in Osteuropa, sind auch hier viele Wertschöpfungsquellen ausgetrocknet oder Privateigentum. Oder ausgetrocknetes Privateigentum. Der Niedergang wurde in den 1990ern vom IWF forciert. Jugoremedija, ein Medikamentenhersteller, wurde 2006 privatisiert und ging kurz danach pleite. Die 150 Mitarbeiter besetzten die Fabrik, traten in Hungerstreiks. Nach drei Jahren kaufte der Staat Jugoremedija zurück. Es gibt jetzt einen gewählten Verwaltungsrat. »Wir leiten die Fabrik besser als der frühere Manager!« sagt ein Arbeiter. Ein anderer mit einem Gesicht voller Falten raucht erschöpft eine Zigarette: »Als ich nach dreieinhalb Jahren an meinen Arbeitsplatz zurückkam, das bedeutete … – ich weiß nicht. Ich konnte es nicht glauben, daß ich dort war.« Er unterdrückt eine Träne. »Laß mich dir eine Sache sagen: Ich bin sehr glücklich. (Pause) Ich habe alles.« Dann bittet er darum, nicht mehr gefilmt zu werden.

Fremeaux und Jordan lassen die verschiedenen Kämpfe um Selbstbestimmung im Film unkommentiert. Sie sollen für sich sprechen, die Bilder von Arbeitergesichtern, Fabrikruinen, Protestcamps, temporär oder auf Dauer angelegt. Dazwischen gibt es für Denkpausen immer wieder Aufnahmen von Gräsern oder Wolken. Die Sicht der Regisseure liefert – neben Hintergrundinformationen – das Buch. Es kommt als Erlebnisbericht daher. Beschrieben sind Gegenentwürfe, realisierte Utopien, wenn man so will. Sehr prosaisch und detailliert wird eine Nacht-und-Nebel-Aktion auf dem Flughafen London-Heathrow beschrieben. Zur Verhinderung einer dritten Start- und Landebahn wurde hier ein »Klimacamp« errichtet. Im Film sieht man Nachtaufnahmen von Versammlungen der Zelter, überforderten Polizisten und hektischen Reportern. Im Off hält jemand eine Rede: »Wir kritisieren und bekämpfen die kapitalistische, auf Wachstum ausgerichtete Ökonomie. Wir sollten diesem Wirtschaftssystem unsere Zustimmung und Teilhabe entziehen.«

Fremeaux und Jordan haben auch Kommunen besucht, die einem weniger Interesse abringen, da ihre Weltflucht etwas Sektenartiges hat. Beispiele sind ein »Zentrum für experimentelle Gesellschaftsgestaltung« oder »Longo Mai« (Ziegen, selbstgemachte Lavendelsalbe und ergebnislose Arbeitskreise im vorindustriellen Rahmen). Ob die Visionen dieser Aussteiger eher auf Fernweh oder Drogenkonsum zurückgehen, mag befinden, wer sich berufen fühlt. Ihre Berücksichtigung läßt den Film leider an manchen Stellen realitätsfern bis esoterisch wirken. Dem progressiven Gesamteindruck aber tut das keinen Abbruch.


»Pfade durch Utopia«, Regie: Isabelle Fremeaux/John Jordan, Fr/GB 2011, 109 min, der Film wird heute in Hamburg (Kino Abaton), Freitag und Samstag in Berlin (Kinos Sputnik und Lichtblick) in Anwesenheit der Regisseure gezeigt


Isabelle Fremeaux und John Jordan: Pfade durch Utopia. Edition Nautilus, Hamburg 2012, 320 Seiten (mit DVD), 25 Euro

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