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Vor 100 Jahren begann die »Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara ins innerste Deutschland«
Von Helmut Donat
Hans Paasche, Kolonial- und Marineoffizier, gehört zu den wenigen Deutschen, die schon vor dem Ersten Weltkrieg die Kultur der Afrikaner schätzten. In den Jahren 1909/10 unternahm er, begleitet von seiner jungen Frau, eine Expedition zu den Quellen des Nils. Unterwegs lernte er den Schwarzen Lukanga Mukara kennen. Er stammte von der Insel Kitara im Viktoriasee und war bei Ruoma, dem König von Kitara, als Dolmetscher, Erzähler und Gerichtsberater tätig. Die Beobachtungsgabe Lukangas und dessen Auffassung über das, was ihm Paasche über die europäische Kultur, die Gewohnheiten, Sitten und Gebräuche der Deutschen erzählten, gaben den Hintergrund ab für die »Briefe des Afrikaners Lukanga Mukara« – das populärste Werk Paasches. Im fiktiven Auftrag seines Königs wird der von der europäischen Zivilisation unberührte Lukanga auf eine »Forschungsreise ins innerste Deutschland« geschickt. Er hat die Aufgabe, seinem König mitzuteilen, wie die Weißen leben.
Der erste Brief Lukangas handelt von »Münzen, Kultur und Briefen«. Die Deutschen zahlen nicht mit Rindern und Ziegen, auch nicht mit Glasperlen, Kaurimuscheln oder Baumwollstoff. Ihre Münze sind kleine Metallstücke und Papier, das wertvoller ist als das Metall und sogar mehr Wert hat als alle Rinder des Königs von Kitara. Lukanga warnt ihn deshalb umso eindringlicher: »Die Eingeborenen des Landes empfinden diesen und noch viel größeren Unsinn als etwas Selbstverständliches, und sie sind so sehr daran gewöhnt, daß sie erschrecken würden, wenn es anders wäre. Ja, wenn ich ihnen sage, daß wir in unserem Lande mit anderer Münze zahlen, dann sagen sie, was sie hätten, sei besser, und fragen, ob sie kommen sollten und Dir das Bessere bringen. Sie nennen alles, was sie bringen wollen, mit einem Worte ›Kultur‹.«
Als Lukangas erster Brief in der von Paasche und H, Popert gegründeten Zeitschrift Der Vortrupp am 1. Mai 1912, vor nunmehr 100 Jahren, erschien, glaubten viele Leser, daß sie wirklich von einem Afrikaner stammten – ein Eindruck, der sich noch verdichtete, als in den nächsten Monaten weitere Briefe folgten. Sie sind in einer erfrischenden und einfachen Sprache geschrieben und lösten auch ein unerwartetes Echo bei denen aus, die nach neuen Lebensformen suchten. Alles, was die Deutschen damals als besonders wertvoll und selbstverständlich ansahen, stellt Lukanga in Frage. Der Hurrapatriotismus, die Heuchelei und Großmannssucht, der Korpsgeist und die Vergötzung der Macht, der Pflicht- und Ehrbegriff, das Erbrecht und die soziale Ungerechtigkeit, die Organisation des Arbeitslebens, der Volkswirtschaft, des Verkehrs und Geldwesens, die Eß- und Trinkgewohnheiten, das »Rauchstinken«, die sinnlose Geschäftigkeit und Bierseligkeit, die »Unsitte des Bekleidens«, die Reklame und Buchstabengläubigkeit, die Schmutz- und Schundliteratur, die alltäglichen Lebenslügen und Verrücktheiten der Weißen: All das und mehr wird von Lukanga Mukara staunend betrachtet und anschaulich und geistreich, spöttisch und verabscheuend, aber auch mitfühlend für das Leid der Betroffenen geschildert.
Bedenkt man, in welch geregelten und eher geruhsamen Bahnen sich das Leben vor dem Ersten Weltkrieg im Vergleich zu unserem heutigen vollzog, fällt auf, mit welchem Scharfblick Paasche sich der Mißstände einer Gesellschaft annimmt, die »im Dienste der Unterdrückung steht«, den Schwertglauben und den Gewaltkult auf ihre Fahne geschrieben hat, »Gesichter, stumpf, ohne Glück« hervorbringt, aber keine freien Menschen mit Rückgrat und dem Wunsch, »allem zu mißtrauen, was sich der Macht verkauft hat.«
Von den Mächtigen in Staat und Gesellschaft wurde Lukanga als Eindringling, seine »Botschaft« als gefährlich und störend empfunden. Während des Ersten Weltkrieges unterdrückten die Militärbehörden eine Buchausgabe der »Briefe«, zählte ein großes Kolonialreich in Afrika auf der Suche nach neuem »Lebensraum« doch schon damals zu den Kriegszielen deutscher Politiker und Militärs. Erst im Jahre 1921 konnte »Lukanga Mukara« wieder erscheinen. Das Buch fand rasch große Verbreitung. Die Nazis verboten den »Lukanga« ebenso wie andere Schriften von Paasche.
Seit den 1970er Jahren macht Lukanga wieder von sich reden. Inzwischen gibt es eine dänische, holländische und japanische Übersetzung der »Briefe«, im Laufe des Jahres 2012 soll eine niederdeutsche Ausgabe herauskommen. Klein- wie Großverlage haben sich der »Botschaft« Lukangas angenommen. Im deutschen Sprachraum sind seit 1921 Hunderttausende Exemplare erschienen. Wie ist dieser Erfolg zu erklären?
Harry Pross brachte es am 2. August 1984 in der Süddeutschen Zeitung auf den Punkt: »Hans Paasche hat mit diesen erfundenen Briefen sozialkritischen Inhalts der europäischen Expansion einen Spiegel vorgehalten, der auch heute nicht blind ist.« Ähnlich formulierte es Rolf Brockschmidt am 25. November 1984 im Tagesspiegel: »Auch der heutige Leser wird gezwungen, die vermeintliche Überlegenheit der Alten Welt gegenüber der Dritten Welt zu überdenken.« Acht Jahre später kommt Christine Backhaus in der Bremer Kirchenzeitung am 31. Mai 1992 zu dem Schluß: »Pasche war ein Denker von beklemmender Modernität. Seine Themen – Krieg und Frieden, Eigensucht und Umwelt- oder Naturschutz, Afrika und Europa – schlagen einen Bogen von fast hundert Jahren. Ohne die Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte sind seine Aussagen so gelungen, daß sie den Leser noch heute ins Mark treffen.«
Über die Zeiten hinweg gibt es immer wieder Menschen, die von dem überaus gebildeten Afrikaner Lukanga Mukara fasziniert sind. Das hat auch und nicht zuletzt mit Hans Paasche zu tun. In Ostafrika war er 1905 an der Niederwerfung von Aufständen beteiligt und wandelte sich vom Marine- und Kolonialoffizier zum Ankläger des Militärwesens und »Freund Afrikas«. Er trat für Frieden und soziale Gerechtigkeit, für Umwelt-, Tier und Naturschutz ein, bekämpfte den Militarismus und Nationalismus, die Todesstrafe und den Alkoholismus, wirkte für Vegetarismus, Bodenreform, Frauenstimmrecht und »natürliche Lebensweise«. Wegen seiner Kriegsgegnerschaft wurde Paasche im Oktober 1917 inhaftiert und in ein Berliner Nervensanatorium gesteckt. Rosa Luxemburg, Carl von Ossietzky, Kurt Tucholsky und Friedrich Wilhelm Foerster bewunderten ihn. Für sie verkörperte er das »andere«, pazifistisch-freiheitstsliebende gesinnte Deutschland, das sich den Traditionen der Aufklärung und Völkerverständigung verpflichtet fühlte. Nach 1918 forderte Paasche eine Abkehr vom Gewaltkult, wollte als sichtbares Zeichen dafür die »Puppen« in der Siegesallee in die Luft sprengen lassen und begrüßte den Verlust der deutschen Kolonien. Auch das verziehen ihm die »alten Kameraden« nie. Im Mai 1920 erschossen ihn rechtsradikal gesinnte Reichswehrsoldaten auf seinem Gut »Waldfrieden« in der Neumark. Hans Paasche hat den Erfolg seines »Lukanga Mukara« nicht mehr erlebt. Das sollte bei der Lektüre seiner ungewöhnlichen »Briefe« nicht vergessen werden.
Der Autor ist Verleger des Donat-Verlags, in dem verschiedene Werke von und über Hans Paasche erschienen sind:
– Hans Paasche: Die Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara ins innerste Deutschland. Mit Beiträgen von Iring Fetscher und Helmut Donat, Donat Verlag, Bremen 2011, 168 Seiten, 12,80 Euro
– Hans Paasche: »Ändert Euren Sinn!« Schriften eines Revolutionärs. Donat Verlag, Bremen 1992, 266 Seiten, 15,40 Euro
– Werner Lange: Hans Paasches Forschungsreise ins innerste Deutschland – Eine Biographie, Bremen 1994, Donat Verlag, 264 Seiten, 19,80 Euro
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