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Tanz dir ein Haus
Ein CD-Sampler und ein Fotoband über Voguing, eine der schönsten Künste der Welt
Von Christof Meueler
Warum soll man genau der sein, der man angeblich sowieso schon ist?
Daß er schwul war, wußte Willi Ninja schon mit zehn Jahren. Daß er tanzen wollte, noch früher. Die meisten Afroamerikaner im New Yorker Stadtteil Harlem, wo er 1961 geboren wurde, verachteten Schwule. Es war für sie ein »Ding der Weißen«, erzählte er Tricia Rose in einem Interview (abgedruckt in dem Buch »Microphone Fiends«, New York 1994). Historisch ironisch waren es dann tatsächlich Weiße, die 1989/90 Ninja und seinen Tanzstil, das Voguing, entwickelt in der schwarzen schwulen Subkultur, über die Grenzen von New York City hinaus bekannt machten.
Da gab es diese Dokumentarfilmerin Jennie Livingston, die »Paris is burning« drehte, der ein Smash-Hit auf Filmfestivals und in Off-Kinos wurde. Im Prinzip begannen damit die Genderstudies an den Universitäten. Die darin auftretenden Voguer wurden mit einem Taschengeld abgespeist. Bevor der Film fertig war, schickte ein DJ Ausschnitte an den ehemaligen Sex-Pistols-Manager Malcolm McLaren in der Hoffnung, daß er für die Produktion Geld auftreiben könnte. Statt dessen nahm er sich ein paar Tonaufnahmen daraus und veröffentlichte die Single »Deep in Vogue«, die eine Woche lang Platz 1 in den britischen Dance-Charts war. Schließlich kam Madonna, hing drei Monate in den wenigen Clubs ab, in denen Voguing eine Rolle spielte, und warf dann »Vogue« auf den Markt, die weltweit bestverkaufte Single von 1990.
Mach’s gut HipHop
Kurze Zeit vorher war im Time Magazine zu lesen: »Vergeßt Breakdance, mach’s gut HipHop. In den heißesten Clubs in Manhattan, auf MTV und in Pariser Modeschauen sind die ultrahippen Leute mit Voguing beschäftigt.« Mehr als zwei Dekaden später erscheint nun auf Soul Jazz der amtliche Sampler (Dreifach-CD) mit der kanonisierten Musik, nachdem das Londoner Label im Dezember schon den entsprechenden Fotoband mit Bildern von Chantal Regnault herausgebracht hat.
Bezeichnenderweise ist »Vogue« von Madonna auf dem Sampler nicht enthalten. Mit dieser Single begann Madonna ihre Softpornophase, mit der sie bis Mitte der neunziger Jahre die Kulturindustrie einschließlich der Klatschpresse in Atem hielt. Im Video zum Stück tanzen mit Luis und Jose Xtravaganza zwei Latino-Voguer, die Madonna auch auf ihrer »Blond Ambition Tour« begleiteten. Danach wurden sie nicht mehr benötigt, Madonna war mit dieser Subkultur durch, und Voguing war wieder Untergrund.
Auf den großen Techno-Raves der 1990er spielte Voguing keine Geige, weil es viel zu kompliziert zu tanzen ist – eher Ballett als Entgrenzung auf Pille. Wer keine Drag Queen sein will, macht sich nicht die Mühe. Dabei ist Voguing in Tanz und Musik eine der wunderbarsten Künste der Welt. Ein autonom choreographierter Ausdruckstanz, der den Posen der Models der großen Modeschauen nachempfunden ist, vorzugsweise zu schwelgerischer Discomusik der 1970er Jahre. Die klassische Periode, als noch ganze Orchester statt einzelne Programmierer den Ton angaben, wie bei MFSB, Salsoul Orchestra, First Choice, Cheryl Lynn oder Diana Ross. Desweiteren wird zu den Prä-House-Hymnen von Loose Joints, Raze und Junior Vasquez getanzt. Aufgelegt von David DePino im »Tracks«, der ersten New Yorker Großraumdisco, die wochentags geöffnet hatte.
Man könnte auch sagen, Voguing ist selbstbestimmtes Untergrund-Modelling zum Beat, nicht auf dem Laufsteg, sondern in der Disco. Eine tänzerische Überwältigungsstrategie, die originelle Einfälle und vor allem Körperbeherrschung verlangt. »Throwing Shades«, das verspielte gegenseitige Verächtlichmachen unter Drag Queens, transzendiert auf dem Dancefloor. Wobei später auch Bewegungen aus Kung-Fu-Filmen eingebaut werden, eine Idee von Willi Ninja, dessen persönliche Vorbilder allerdings die Stepptänzer Fred Astaire und Eleanor Powell waren.
Vom Posing zum Vogueing
Der Legende nach tauchte die Drag Queen Paris Dupree eines Tages bei einer Gruppe von Konkurrentinnen auf, die einander gerade runterputzten. Dupree hatte ein Exemplar der Modezeitschrift Vogue in ihrer Tasche, holte sie raus und während sie tanzte, schlug sie eine Seite auf – und stoppte ihre Bewegung in der Pose des fotografierten Models. Dann schlug sie eine weitere Seite auf und stoppte wiederum in der Pose des nächsten Models. »Zuerst nannten sie es Posing und dann Voguing«, erzählt DePino in dem Soul-Jazz-Buch.
Die Wurzeln von Drag-Queen-Parties in New York reichen bis ins 19. Jahrhundert. Der erste queere Maskenball in Harlem, der geschichtlich festgehalten wurde, fand 1869 statt. Es gab transvestitische Kostümwettbewerbe, in die Tanzeinlagen integriert waren. Als »homosexuelle Werbeveranstaltungen« wurden sie ab Mitte der 1920er Jahre kriminalisiert und fanden im Verborgenen statt. In den 1960er Jahren, unter Einfluß der schwarzen Bürgerrechtsbewegung, teilten sich diese Veranstaltungen nach der Hautfarbe. In den 1970ern bildeten sich im Kontext der Schwulenbewegung spezielle Häuser für schwarze Drag Queens, die wie Familien funktionierten. Sie hatten »Väter« und »Mütter«, meistens die Gründer solcher Häuser wie Willi Ninja, Hector Xtravaganza, Paris Dupree oder Pepper LaBeija, nach denen sie auch benannt wurden, ähnlich wie die Modehäuser der Haute Couture in Paris die Namen von Coco Chanel, Christian Dior oder Yves Saint Laurent trugen. »The House of Ninja«, »The House of Xtravaganza« etc.waren gleichermaßen Schutzorte wie tänzerische Ausbildungsstätten des künstlerisch ambitionierten schwulen Untergrunds, der sich dann in den Ballveranstaltungen der jeweiligen Häuser präsentierte. Sie waren offen für Jugendliche, die zu Hause nicht mehr klarkamen. Wie es jemand im Film »Paris is burning« formuliert: »You have three strikes against you; you are black, gay and a drag queen.«
In den 1970er Jahren war New York ökonomisch hinüber, 1975 wurde die Stadt unter finanzielle Zwangsverwaltung gestellt. Im Zuge von wachsender Drogenkriminalität und erodierender Infrastruktur bildeten sich auf den Straßen von Harlem Gangs, die extrem straight und homophob auftraten. Deren Mitglieder interessierten sich, wenn überhaupt, für Breakdance, als es Ende der 1970er mit HipHop anfing. Voll auf Machismo, wie man damals gerne sagte. Demgegenüber versammelten sich in den Häusern der Drags schwule Künstlerbanden, die zur sexuell egalitär ausgerichteten Disco-Musik miteinander wetteiferten. Disco war ja viel mehr »street« als es die damals in den Illustrierten ausgewalzten Zerrbilder des sich im New Yorker Luxusnachtklub »Studio 54« verausgabenden Jetsets vermittelten. Im Schatten solcher Hochglanzklischees versammelten sich die Drags an den Westside Piers und übten ihre Moves. Nicht nur abseits der Ausgehbourgeoisie, sondern auch abseits der Gangs des Subproletariats.
Die schönsten Frauen
Bei den Drags wollten Männer die schönsten Frauen sein. Sie antizipierten damit eine philosophische Bewegung, die Anfang der 1990er Jahre durch die Feministin Judith Butler den berühmten »Gender Trouble« ausrief, wie ihr Hauptwerk »Das Unbehagen der Geschlechter« im Original heißt. Darin ging es um »die Einsicht, daß die Heterosexualität gleichzeitig ein Zwangssystem und eine wesenhafte Komödie, eine fortgesetzte Parodie ihrer selbst ist«. Besondere Beachtung verdient das Bemühen der Voguer um »Realness«. Meinte die Parole »Keeping it real« bei den Breakdancern und im HipHop die Idee, so »authentisch« wie nur möglich erscheinen zu wollen, bedeutete sie bei den Voguern das genaue Gegenteil: L’art pour l’art, weil es sonst langweilig wird.
Denn warum soll man genau der sein, der man angeblich sowieso schon ist? »Die Geschlechtsidentitäten können weder wahr noch falsch, weder wirklich noch scheinbar, weder ursprünglich noch abgeleitet sein. Als glaubwürdiger Träger solcher Attribute können sie jedoch gründlich und radikal unglaubwürdig gemacht werden« (Butler).
Nachdem er eine gewisse Prominenz erlangt hatte, zeigte Willi Ninja Frauen wie Naomi Campbell oder Paris Hilton, wie man sich feminin bewegt. Er nannte dies die »rauhe Schale abwerfen«, die sich im urbanen Leben aus Gründen des Selbstschutzes jede Frau auferlegt habe. Von den Männern ganz zu schweigen. »Ich lernte alles durch Zugucken«, sagte er Tricia Rose, »es gibt keine Regel, die dir verbietet, tanzen zu lernen und eine Technik zu entwickeln.«
V.A.: »Voguing and the House Ballroom Scene of New York City 1976–96« (Soul Jazz)
Chantal Regnault / Tim Lawrence: Voguing and the Ballroom Scene of New York 1989–92. Soul Jazz Books, London 2011, 210 Seiten, 25 engl. Pfund
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