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#1

Ein neuer Film über Missbrauch

in Scham & Ehre 25.01.2012 20:53
von Lisadill • 744 Beiträge

Kinorezension
26.01.2012 / Feuilleton / Seite 13Inhalt
Biß ins Butterbrot
Oder die Banalität des Bösen: Markus Schleinzers Mißhandlungsdrama »Michael«
Von André Weikard

Hand in Hand in den Abgrund
Foto: Promo
Ein Film über zwei Menschen, die sich eine Wohnung teilen, zusammen zu Abend essen, gemeinsam abspülen, Weihnachten feiern; die einen Ausflug in den Zoo machen, Händchen halten und puzzeln. Klingt langweilig? Das Kritikerpublikum bei den Filmfestspielen in Cannes war ganz aus dem Häuschen. Applaus gab es und auch Buhrufe. In Saarbrücken bekam der Regisseur Markus Schleinzer den Max-Ophüls-Preis dafür. Für einen »klugen Film« und eine »vorsichtige Annäherung an die Abscheulichkeit«, so die Jury.

Die Abscheulichkeit liegt im Thema. Dieses Drama namens »Michael« ist das Porträt eines Pädophilen. Die Hauptfigur (Michael Fuith) ist ein gefühlloser, verkrampft-steifer Mann, der einen zehnjährigen Jungen (David Rauchenberger) entführt, gefangen hält und vergewaltigt. Schleinzer, der sonst Schauspieler castet, zog für seinen ersten Film eine forensische Psychologin hinzu. Das wäre kaum nötig gewesen. Die meisten Szenen seines Films sind nicht nur plausibel, sie sind wahr. Sie sind dem Fall von Natascha Kampusch abgeschaut, die bis zu ihrer Flucht 2006 acht Jahre lang in einem Kellerverlies lebte. Ihre Beschreibungen von einem pedantischen, gefühlsarmen Täter hat Schleinzer in Bilder übersetzt. Sein Täter ist Versicherungsangestellter, hat lichtes Haar, trägt Krawatte und ein dünnes metallenes Brillengestell. An den Wänden seiner Wohnung hängen Messingteller, die vergilbte Farnblatt-Tapete, die einfachen Möbel aus dunklem Holz, die Korkuntersetzer und die Tischdeckchen atmen deutsche Biederkeit. Und womöglich hat der Österreicher Schleinzer sich dafür besonders interessiert, für das Deutsche an diesem Täter und an dieser Tat. Nicht umsonst heißt das Drama eben »Michael«, nach der Entführerfigur und nach der Karikatur des typisch Deutschen Michel.

Das Böse tut der Biedermann nicht im Affekt, das Monster ist kein gieriger Triebtäter, der von seiner Leidenschaft überwältigt wird. Nein, das Böse wird mit aller Nüchternheit und Gründlichkeit, mit voller Kontrolle und vollem Vorsatz betrieben. Der entführte Junge ist in einem schallisolierten Kellerraum untergebracht, der mit dem Nötigsten ausgestattet ist. In einem solchen Kerker liegt niemand in Ketten, hier sind keine Schläge nötig. Allein die elektrischen Rollos der Wohnung fahren mit mechanischem Surren herunter und verbergen vor den Nachbarn, was drinnen geschieht. Schleinzer zeigt keine offene Gewalt und keine Vergewaltigungsszenen. Aber er zeigt seinen Protagonisten, wie er das Verlies des Jungen verläßt und ins Bad geht, um seinen Penis zu waschen. Er zeigt all die versteckten, kleinen Grausamkeiten. So schaut der Zuschauer dem Entführer zu, wie er Briefe des Jungen an seine Eltern im Waschbecken verbrennt, wie er mit dem Zehnjährigen Händchen hält oder sich immer wieder die Hände wäscht. Schleinzer inszeniert nüchtern, distanziert, manche würden sagen: kalt. Auch der Junge bleibt seltsam gefühllos, seine Verzweiflung, sein Unglück, seine Wut lassen sich nur ahnen, wenn ihm die Tränen kommen, als er ein Flugblatt sieht, mit dem Nachbarn nach ihrer Katze suchen. Sucht nach ihm denn keiner?

»Michael« ist ein Täterfilm, der seine Hauptfigur verstehen will, der sie aber auch ausstellt, sie in ihrer Jämmerlichkeit vorführt. Einmal beim Abendbrot steht das Monster im V-Kragen-Pullover auf, knöpft die Hose auf, nimmt das Küchenmesser in die Hand und sagt den auswendig gelernten Spruch: »Hier ist das Messer und hier ist mein Schwanz, was soll ich dir reinstecken?« »Das Messer«, sagt der Junge ungerührt und beißt von seinem Butterbrot ab. Die beiden haben sich arrangiert. Der Gedemütigte zögert, zieht kleinlaut seinen Reißverschluß hoch und setzt das Abendessen fort. Die erzwungene Gemeinschaft von Vergewaltiger und Opfer ist immer noch eine Gemeinschaft, die nach eingespielten Regeln abläuft und die einen ganz eigenen, absurden Alltag entwickelt.

Diesen Alltag, das Leberkäsbacken in der Pfanne, das Schmücken des Weihnachtsbaumes oder die gemeinsamen TV-Abende sind schlicht und faszinierend zugleich. Das stille Ringen zwischen den beiden, das Unfaßbare im Gewöhnlichen, fesselt. »Michael« ist ein Drama mit einem starken Thema, einer konsequenten Regie und phantastischen Darstellern. Nicht zu Unrecht wird Schleinzers Arbeit mit der seines Freundes und Ziehvaters Michael Haneke verglichen – auch wenn er selbst das nicht gerne hört. Am Schluß steht ein offenes Ende, eine Beerdigungsszene und ein Bibelzitat: »Ich habe dich so sehr geliebt, da habe ich dich zu mir genommen.«

»Michael«, Regie: Markus Schleinzer, Österreich 2011, 96 min, Kinostart: heute


hierzu ein erhellender Beitrag von Alice Miller

http://www.alice-miller.com/bucher_de.php?page=9a


zuletzt bearbeitet 25.01.2012 20:55 | nach oben springen


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