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#1

Vergewaltigungen in Indien/Aufstand der Frauen

in Menschenrechte 26.12.2012 19:08
von Lisadill • 744 Beiträge

Aufstand der Frauen
Von Hilmar König und André Scheer

In Indien hat die brutale Vergewaltigung einer 23jährigen Studentin in Delhi Massenproteste ausgelöst. Die junge Frau war am 16. Dezember in einem Bus von sechs Männern brutal mißhandelt und mit ihrem Begleiter aus dem Fahrzeug auf eine stark befahrene Straße geworfen worden. Sie schwebt noch immer in Lebensgefahr und muß künstlich beatmet werden. Seit Tagen fordern nun vor allem Frauen eine Ende der Gewalt und Unterdrückung. Am Dienstag erlag ein Polizist seinen Verletzungen, die er am Sonntag erlitten hatte, als die Polizei in der indischen Hauptstadt versucht hatte, mit Tränengas und Wasserwerfern ein Vordringen der wütenden Demonstrantinnen – unter ihnen Medienberichten zufolge viele junge Mädchen – zum Präsidentenpalast zu verhindern. Mehr als 140 Personen wurden dabei verletzt. Die Behörden ließen Straßen abriegeln und neun Metrostationen sperren, um Aufläufe in der City zu verhindern.

Auch im nordostindischen Mani­pur eskalierte die Situation, als Tausende Menschen am Sonntag gegen die sexuelle Belästigung einer bekannten Schauspielerin auf die Straße gingen. Die Polizei eröffnete das Feuer auf die Demonstranten, dabei wurde der 29jährige Reporter Khwairakpam Dwijamani Singh tödlich getroffen.

Erst nach mehr als einer Woche rang sich Indiens Premier Manmohan Singh am Montag zu einer Botschaft an die Nation durch. Er bekundete der schwerverletzten Frau sein Mitgefühl und rief die Öffentlichkeit zu Ruhe und Besonnenheit auf. Die Empörung sei verständlich und gerechtfertigt, Gewalt aber sei keine Lösung. Auch Staatspräsident Pranab Mukherjee beklagte »negative Einstellungen« gegenüber Frauen. Eine Regierungskommission soll jetzt Vorschläge erarbeiten, wie speziell Delhi für Frauen sicherer gemacht werden kann. So hat die Polizei Medienberichten zufolge begonnen, die Eigentümer von Bussen und Autos zu zwingen, verdunkelte Scheiben zu entfernen. Alle Nahverkehrsmittel sollen zudem mit GPS-Systemen ausgestattet werden, um ihre Bewegung aufzeichnen zu können.

Allerdings ist auch die Polizei selbst ins Zwielicht geraten. Wie die Tageszeitung The Times of India am Dienstag berichtete, hat Delhis Regierungschefin Sheila Dikshit bei Innenminister Sushilkumar Shinde Beschwerde eingereicht, weil ranghohe Beamte Druck auf die ermittelnde Richterin ausgeübt haben sollen, als sie das Opfer nach der Tat befragte. Die Polizisten sollen die Juristin aufgefordert haben, die Befragung nicht auf Video aufzunehmen sowie einen von ihnen vorbereiteten Fragebogen zu verwenden. Gegen die Polizisten, die die Vorwürfe abstreiten, sollen nun Ermittlungen eingeleitet werden, die von Usha Mehra, einer früheren Richterin des Obersten Gerichtshofs Indiens, geleitet werden, hieß es am Mittwoch aus dem Ministerium.

Einer Statistik des Nationalen Büros zufolge, bei dem Verbrechen registriert werden, sind im Jahr 2011 allein in Delhi 572 Vergewaltigungen gemeldet worden. Die Dunkelziffer liegt jedoch weit höher, weil viele Frauen wegen der ihnen drohenden sozialen Stigmatisierung und wegen des mangelnden Vertrauens in Polizei und Justiz keine Anzeige erstatten. Im wöchentlichen Politikmagazin ­Tehelka forderte Chefredakteurin Shoma Chaudhury deshalb einen »von der Regierung geführten Blitzkrieg zur Gender-Sensibilisierung auf allen Ebenen der indischen Gesellschaft«

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#2

RE: Vergewaltigungen in Indien/Aufstand der Frauen

in Menschenrechte 31.12.2012 18:31
von Lisadill • 744 Beiträge

Trauer und Proteste
"Kurz zuvor war in Punjab eine sexuell mißbrauchte Minderjährige von der Polizei in den Selbstmord getrieben worden."
Einfach erschütternd!


Indien: Massives Polizeiaufgebot soll Demonstrationen nach Tod der vergewaltigten Studentin ­eindämmen

Von Hilmar König

Dichter Nebel lag über Delhi, als die Leiche der namenlosen 23 Jahre alten Studentin, die am 16. Dezember in einem Bus von sechs Männern vergewaltigt worden war, am Sonntag in aller Frühe dem hinduistischen Ritual entsprechend den Flammen übergeben wurde. Die Polizei hatte das Areal um das Krematorium abgeriegelt, Medien und Öffentlichkeit blieben ausgesperrt. Anlaß für diese Maßnahmen war die Furcht vor unkontrollierbaren Protestaktionen. Die junge Frau war am Samstag in einem Hospital in Singapur ihren schweren inneren Verletzungen erlegen. Millionen Menschen überall in Indien, so in Delhi, Kolkata, Bangalore, Mumbai, Hyderabad, gedachten am Wochenende mit Sit-Ins, Hungerstreiks und Schweigemärschen der Verstorbenen. Auf Plakaten forderten sie Gerechtigkeit und Gleichberechtigung der Frauen sowie härteste Bestrafung für die inzwischen des Mordes angeklagten Täter.

40 Kompanien Sicherheitskräfte waren im Zentrum der Hauptstadt aufmarschiert. Zehn U-Bahnstationen waren zeitweilig geschlossen worden, um Aufläufen vorzubeugen. Dennoch versammelten sich an verschiedenen Orten der Stadt Tausende Menschen zum stillen Gedenken. Es kam zunächst nur zu kleineren Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Polizei.

In einer Stellungnahme der Aam Aadmi Party, die vorrangig gegen Korruption kämpft, hieß es: »Ein Moment nationaler Trauer, aber auch nationaler Schande. Wir haben als Nation versagt, Bedingungen zu schaffen, unter denen Frauen ein normales Leben ohne Demütigungen führen können. Wir haben als Gesellschaft versagt, eine Kultur der Achtung und Gleichberechtigung der Frauen zu schaffen.«

Die Medien hatten der angehenden Physiotherapeutin in Anlehnung an einen Bollywood-Film aus dem Jahre 1993 den fiktiven Namen »Damini« verliehen. In dem Streifen kämpfte die Heldin entschlossen und erfolgreich um Gerechtigkeit für ein vergewaltigtes Dienstmädchen. Das Schicksal der neuen »Damini« hat zumindest die auf vielen Ebenen praktizierte, oft mit Gewalttätigkeiten vollzogene Mißachtung der Inderinnen sowie die Debatte um Frauenrechte ins öffentliche Bewußtsein gerückt. »Damini«, so ihre in bescheidenen Verhältnissen lebenden Eltern, habe ein Vermächtnis hinterlassen, das Indien aufrütteln müsse, das so schnell nicht von der Tagesordnung der Politik verschwinden dürfe und bis tief in die Gesellschaft hinein wirken müsse: Die Grundhaltung gegenüber Frauen müsse sich ändern.

Gewalt gegen Frauen ist keine Ausnahme, sondern eingebettet in die patriarchalische, noch immer von Kastendenken geprägte indische Gesellschaft. Diskriminierung und Gewalt beginnen bereits im Mutterleib. Das Verlangen nach männlichen Nachkommen führt trotz gesetzlichen Verbots zu massenhafter Abtreibung weiblicher Föten. Mädchen werden bei Ernährung und Gesundheit, bei Schulbesuch und Berufsbildung grob vernachlässigt. Jährlich gibt es 24 Millionen Kinderheiraten, durch die sich Familien der »Last« so schnell wie möglich entledigen wollen, die Folge wiederum sind Mitgiftmorde. Das Übel hat viele Gesichter. Sexuelle Aufklärung ist immer noch ein Tabu. Auch in der Schule wird das Thema, wenn überhaupt, nur verschämt behandelt.

Vergewaltigung wird häufig als Kavaliersdelikt gesehen. Richter zeigen sich nachsichtig, denn die oft jugendlichen Täter hätten »noch das ganze Leben vor sich«. Oder sie kommen aus Familien der Oberschicht mit Beziehungen und Geld zum Loskauf ihres Sprößlings. Nur 26 Prozent aller Prozesse enden mit einer Verurteilung der Sexualverbrecher. In Delhi wurden in diesem Jahr bislang 661 solche Fälle bekannt – es kam lediglich zu einer Verurteilung.

Fundamentale Veränderungen in der sozialen Einstellung gegenüber dem weiblichen Geschlecht, so erkannte jetzt auch Premier Manmohan Singh, seien das Gebot der Stunde. »Wir müssen sicherstellen, daß dieser Tod nicht vergeblich war«, sagte er. Bollywood-Ikone Shah Rukh Khan erklärte, er schäme sich »Teil dieser Gesellschaft und Kultur« zu sein.

»Daminis« Vermächtnis zu erfüllen ist eine große Herausforderung. Neue Fälle belegen das. Am 27. Dezember wurde in Delhi eine 42jährige am Straßenrand aufgefunden, die betäubt und vergewaltigt worden war. Kurz zuvor war in Punjab eine sexuell mißbrauchte Minderjährige von der Polizei in den Selbstmord getrieben worden.


zuletzt bearbeitet 31.12.2012 18:35 | nach oben springen

#3

RE: Vergewaltigungen in Indien/Aufstand der Frauen

in Menschenrechte 03.01.2013 18:46
von Lisadill • 744 Beiträge

Suzanne Moore
02.01.2013 | 16:59 3
Wut statt Angst

Proteste Die Vergewaltigung einer jungen Frau hat in Indien eine Debatte ausgelöst, die längst überfällig war
Wut statt Angst

"Ist mein Land wirklich meines?" Demonstrantinnen protestieren in Neu Delhi gegen Gewalt an Frauen

Andrew Caballero-Reynolds/AFP/Getty

Als ich vor dreißig Jahren zum ersten Mal in Delhi war, wohnte ich dort in einer schäbigen Absteige. Die ganze Nacht klopften Männer an meine Tür, die zwei Dinge wollten: Sex und Johnnie Walker. Ich verbarrikadierte mich in meinem Zimmer und holte mein Schweizer Messer und meine Hutnadel raus. Letztere erwies sich vor allem in öffentlichen Verkehrsmitteln als äußerst nützlich.

Trotzdem verliebte ich mich in Indien, denn es ist nicht ein Land, sondern viele. Und auch wenn ich seither immer wieder dorthin gereist bin, weiß ich, dass ich nur an der Oberfläche kratzen könnte, selbst wenn ich mein ganzes Leben hier verbrächte. Ich bin hier Touristin, da mache ich mir nichts vor. Gerade mache ich mit meiner Familie Urlaub in Goa, wo Westler und wohlhabende Inder an schönen Stränden das Leben genießen. Sie wollen hier feiern, Erdbeer-Mojitos trinken, tanzen.

Ich aber kann nicht aufhören, die Nachrichten zu verfolgen. Es ist etwas im Gange, das wichtiger ist, als der neuste Trance-Mix. So etwas, wie den Ausbruch des Zorns, nachdem eine junge Frau - „Damini“ genannt - in einem Bus von sechs Männern vergewaltigt wurde und dann starb, habe ich in Indien noch nie erlebt. Diese Wut hat lange auf sich warten lassen. Doch nun finden nicht nur im Zentrum Delhis Demonstrationen und Mahnwachen statt, sondern überall von Kalkutta bis Panjim. Dieses eine Mal sind Norden und Süden vereint. Rapper aus dem Kaschmir machen Musik, um die Frauen von Delhi zu unterstützen.

Die Statistiken sind nicht neu, aber sie sind so unübersehbar, wie die Familien, Männer, Frauen und Kinder, die jetzt demonstrieren. Im vergangenen Jahr gab es in Delhi 635 gemeldete Vergewaltigungen und eine Verurteilung. An Orten wie Karnataka ist es schlimmer, aber Delhi rühmt sich eben damit, das moderne Indien zu sein. Jason Burke, der Indienkorrespondent des Guardian, hat zutreffend geschrieben, in dieser eigentümlich indischen Gemengelage aus Wut, Sentimentalität und Verleugnung prallten neu und alt aufeinander.
Es geht nicht um Sex

Am neuen, modernen Technikland, als das Indien sich gerne verkaufen will, haftet der Makel seines Verhältnisses zu Frauen. Ich schaute gerade die Nachrichten, als „Braveheart“ – so lautet einer der abscheulichen Namen, die dem Opfer gegeben wurden – nach Singapur geflogen wurde. Warum? Aus dem Augen, aus dem Sinn? In Indien gibt es einige der besten Krankenhäuser der Welt. In Städten wie Chennai kann man kaum einen Fuß vor den anderen setzen, so viele Europäer kommen dorther, um sich eine neue Hüfte oder ein neues Knie einsetzen zu lassen. Wer verlegt eine Patientin mit Organversagen, Hirnverletzungen und Infektionen, die schon einen Herzstillstand hatte? Junge Männer riefen bei Nachrichtensendern an und boten an, ihren Darm zu spenden – der des Opfers musste aufgrund der Verletzungen, die ihr mit einer Eisenstange zugefügt wurden, entfernt werden.

Die Krux – über die viele nicht zu reden bereit sind – ist, dass es bei Vergewaltigung nicht um Sex geht. Es geht um Macht. Um Folter. Um Brutalität. Am 30. Dezember gab es wieder einen Übergriff auf eine junge Frau, wieder in einem Bus. In der vergangenen Woche starb in Gujarat ein zweijähriges Mädchen nach einer Vergewaltigung, während ein weiteres Opfer einer Gruppenvergewaltigung Selbstmord beging. Sie war vor die Entscheidung gestellt worden, die Anklage fallen zu lassen oder einen ihrer Angreifer zu heiraten.

Arundhati Roy hat thematisiert, wie die indische Armee Vergewaltigungen in Kaschmir und Manipur als Kriegswaffe einsetzt. Auch die Polizei und die obere Kaste tun dies. Es wurde Überraschung darüber bekundet, dass Damini keine Dalit, keine Unberührbare war. Für die sind Vergewaltigungen Alltag. Wo es keine Toiletten gibt, werden Frauen im Wald vergewaltigt.

Nun aber stellt sich heraus, dass auch die Frauen der Mittelschicht nicht sicher sind. Sie gehen nach Sonnenuntergang nicht mehr aus. Eine sagte mir, Indien sei schlimmer als Saudi Arabien. Der Polizei vertraut niemand. Manchmal müssen vergewaltigte Frauen einen „Fingertest“ über sich ergehen lassen, bei dem ein Arzt feststellt, ob ihre Vagina „an Geschlechtsverkehr gewöhnt“ ist. Die normalen Frauen hier sind wütend. Sie tragen Plakate, auf denen steht „Tötet die Gräueltäter“ oder „Foltert sie zu Tode“. Ermutigend ist hingegen, im TV junge, artikulierte Frauen zu sehen, die ein Gespräch führen, das längst überfällig war.

Die Reaktion der Politik war fürchterlich, Sonia Gandhis Rede an die Nation vollkommen unangemessen. Einige weibliche Politiker sagen, Frauen, die vergewaltigt würden, seien wegen ihrer „Abenteuerlust“ selber schuld. Der Sohn des Präsidenten bezeichnete die Demonstrantinnen als „angeknackst“ und „aufgetakelt“. Als verrückt und bedeutungslos wurden solche Stellungnahmen der politischen Klasse kritisiert.

Daminis Leiche wurde aus Singapur zurück gebracht und eingeäschert – nachts, unter erheblichen Sicherheitsmaßnahmen, um weitere Proteste zu verhindern. Sie wurde nicht, wie es der Brauch ist, in ihr Dorf überführt. Ihre Mutter erlitt einen Zusammenbruch.
Politiker fürchten eine "rosa Revolution"

Die junge Frau hieß in Wirklichkeit gar nicht Damini. Ihre Identität ist weiterhin unbekannt. Vergewaltigt zu werden ist immerhin eine Schande. Damini ist ein Wort aus dem Sanskrit. Es heißt Blitz. Und es ist der Name der Heldin eines bekannten indischen Films, die sich weigert, zuzulassen, dass ein Vergewaltiger der Gerechtigkeit entkommt. Mehrere große Bollywood-Stars haben ihr Entsetzen zum Ausdruck gebracht. Trotzdem kommt ein Bollywood-Film nach dem anderen heraus, in dem eine Frau im Namen der Romantik in die Unterwerfung getrieben wird.

Am meisten ängstigt einen Teil der Politiker, dass die jungen, gebildeten Menschen, die jetzt einen Wandel verlangen, sie an den Arabischen Frühling erinnern. Sie fürchten die, wie sie es nennen, „rosa Revolution.“ Wenn Leute sagen, Feminismus sei ein Zeitvertreib für einige wenige weiße Mittelschichtsfrauen im Westen, die sich den Kopf darüber zerbrechen, ob sie Lippenstift tragen sollen oder nicht, wünschte ich, sie könnten diese zornigen Männer und Frauen sehen, die fordern, dass Frauen in Sicherheit leben können und die aussprechen, dass Vergewaltigung immer eine Waffe ist, mit der Frauen in Angst gehalten werden sollen.

Etwas geschieht in Indien – die Wut tritt an die Stelle der Angst. Der Damm ist gebrochen. Die Politiker wollen eine Law-and-Order-Debatte führen, in der radikalen geht es aber darum, wie die Kultur selbst sich verändern ließe. Und weil wir von Indien sprechen, geht es um eine Vielzahl von Kulturen. Irgendwie jedoch unterzieht sich dieses Land – durch den Schock und das Trauma hindurch – selbst einer Prüfung. Und seine vielgepriesene Modernität wirkt dabei gar nicht mehr so modern.

Das neue Indien kann nur geboren werden, wenn die Frauen das Recht auf Freiheit, Sicherheit und Gleichheit erhalten. Manch einer hat das vielleicht schon immer gewusst. Ich weiß nur, dass nun sehr viel mehr Inder es wissen. Politisch ist vom „höchsten Opfer der jungen, mutigen Tochter Indiens“ die Rede. Diese Frau hat den Tod nicht gewählt. Sie wurde ermordet. Das empört diejenigen, die bei Nacht Mahnwachen halten. Es empört mich. Es kann nicht ausgeflogen, stillgeschwiegen oder zu Asche verbrannt werden. Es lodert. Und es wird weiter brennen.
Übersetzung: Zilla Hofman

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#4

RE: Vergewaltigungen in Indien/Aufstand der Frauen

in Menschenrechte 06.01.2013 19:10
von Lisadill • 744 Beiträge

Opfer nicht mehr namenlos
Indien: Vater und Freund der vergewaltigten Studentin brechen ihr Schweigen
Von Hilmar König

Der Vater der jungen Frau, die am 16. Dezember vorigen Jahres in Delhi von sechs Männern vergewaltigt worden und am 29. Dezember in einem Krankenhaus in Singapur gestorben war, enthüllte am Sonntag in einem Interview für die britische Zeitung Sunday People die Identität seiner Tochter: »Wir wollen, daß die Welt ihren wirklichen Namen kennt: Jyoti Singh Pandey.« Sie habe nichts Falsches gemacht, sondern sei ums Leben gekommen, als sie sich gegen die Täter wehrte. Badri Singh Pandey, der 53 Jahre alte Vater, sagte weiter: »Ich bin stolz auf sie. Ihren Namen zu enthüllen gibt anderen Frauen, die solche Überfälle überlebt haben, Mut. Sie werden Kraft finden durch meine Tochter.«

In Indien verbietet ein Gesetz die Veröffentlichung der Namen von Vergewaltigungsopfern, es sei denn, die Frau verlangt es. Da die 23jährige Jyoti tot ist, tat das der Vater nun an ihrer statt. Der Reporter besuchte die Familie in ihrem Heimatdorf Billia im Bundesstaat Uttar Pradesh. Die 46 Jahre alte Mutter Asha sah sich noch nicht in der Lage, über den Verlust ihrer Tochter zu sprechen. Badri Singh Pandey forderte die Todesstrafe für alle sechs Täter. Sie seien »Bestien, nicht von dieser Welt«. Die Gesellschaft dürfe es nicht zulassen, daß ein solches Verbrechen noch einmal geschehen könne. Es habe sie alle sehr bewegt, wie stark die Bevölkerung Anteil am Schicksal Jyotis genommen hat. »In diesem Sinne fühle ich, daß sie nicht nur unsere, sondern Indiens Tochter ist«, äußerte er. Er habe die Hoffnung, daß die Proteste ein Umdenken bei den Menschen auslösen und daß Eltern künftig ihre Söhne in Respekt vor den Frauen erziehen. Dann wäre der Tod der Tochter nicht umsonst gewesen.

Jyotis Begleiter sei nichts weiter als ein guter Freund gewesen, der sie beschützen und retten wollte. Von Heirat sei keine Rede gewesen, zumal beide unterschiedlichen Kasten angehörten. Die Tochter konzentrierte sich auf ihre Ausbildung zur Physiotherapeutin und wollte erst einen Job, so der Vater. Sie machte gerade ein Praktikum in einer Privatklinik und träumte davon, einmal Ärztin zu werden. Doch dafür sei die Familie finanziell zu schwach gewesen. Badri Singh Pandey verdient als Gepäckverlader auf dem Airport von Delhi 5700 Rupien im Monat, etwas mehr als 80 Euro. Damit kommt die Familie mit zwei Söhnen mehr schlecht als recht über die Runden. Deshalb hatten sich alle Hoffnungen auf Jyoti gerichtet, die als Fachkraft den Familienetat mit ihrem Gehalt spürbar aufgebessert hätte.

Awindra Pratap Pandey, der 28 Jahre alte Begleiter des Vergewaltigungsopfers, war am Freitag vor den Kameras des Privatsenders Zee TV an die Öffentlichkeit gegangen und hatte schockierende Einzelheiten über den Vorfall berichtet, bei dem er ebenfalls mißhandelt worden war. Demnach lagen die beiden unbekleideten, schwerverletzten und blutenden Opfer eine halbe Stunde am Straßenrand, begafft von Vorbeifahrenden, ehe endlich einer die Polizei verständigte. Die Beamten wiederum hätten sich eine halbe Stunde lang gestritten, welches Revier zuständig sei. Schließlich seien beide in ein Krankenhaus gefahren worden, aber nicht in das nächstgelegene. Im Hospital hätte es wieder lange Wartezeiten gegeben. Oppositionspolitiker forderten angesichts dieser Vorwürfe die Entlassung des Polizeichefs von Delhi
Das Verfahren gegen die Täter wird am heutigen Montag vor dem Gericht Delhi-Saket fortgesetzt. 80 Zeugen sollen gehört und zwölf Beweisstücke ausgewertet werden. DNA-Tests sollen bereits die Täterschaft aller sechs Angeklagten bestätigt haben.

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#5

RE: Vergewaltigungen in Indien/Aufstand der Frauen

in Menschenrechte 22.01.2013 18:46
von Lisadill • 744 Beiträge

Mama sagt
Mechanismen der Klassengesellschaft im indischen Roman »Tagebuch eines Dienstmädchens«
Von Gerhard Klas
16jährige mit Henna-Deko in Neu-Delhi nach jahrelanger Arbe
16jährige mit Henna-Deko in Neu-Delhi nach jahrelanger Arbeit als ­Dienstmädchen (November 2012)
Foto: Reuters
Der Dienstbotenroman ist fester Bestandteil der indischen Literatur – nicht erst, seit Aravind Adigas »Der weiße Tiger« 2008 mit dem Booker-Preis ausgezeichnet wurde. Im Heidelberger Draupadi-Verlag, der dieses Genre 2009 mit Baby Halders Roman »Kein ganz gewöhnliches Leben« bediente, ist nun das »Tagesbuch eines Dienstmädchens« von Krishna Baldev Vaid erschienen. Anders als Baby Halder ist Baldev Vaid nicht selbst Dienstbote, sondern einer der großen Schriftsteller des modernen Hindiromans.

Ohne die vielen Millionen Dienstboten könnte die indische Mittelschicht sicher nicht einen Tag lang existieren. Sie waschen, kochen, putzen, kaufen ein, hüten die Kinder, leeren den Müll aus, chauffieren, kurzum: Sie sind für alles zuständig, was ihre Sahibs und Memsahibs – ihre Dienstherren und Dienstfrauen – wegen ihrer zeitraubenden Jobs nicht mehr schaffen und/oder als »unwürdige Arbeit« erachten. Shano, die Heldin von Krishna Baldev Vaid, arbeitet wie ihre Freundinnen für mehrere Familien. Die Nächte verbringt sie in ihrer Hütte in einer Slumsiedlung. Ihr Mißtrauen sitzt sehr tief, wie schon der erste Satz in Shanos Tagebuch signalisiert: »Mama sagt, die Herrschaften, für die wir arbeiten, sind von Natur aus gemein, man kann ihnen nicht trauen, weil sie keinerlei Mitgefühl mit Leuten wie uns haben.«

Ein Teil von Shanos Kundschaft bestätigt diese Regel. Dabei läßt Vaid – als etablierter Schriftsteller Angehöriger der wohlhabenden Mittelschicht – eine gute Portion Selbstironie erkennen, etwa in den Spitznamen, die seine Protagonistin ihrer Kundschaft verpaßt: Zeitungssahib, Brillenschlange, Dubai-Lady oder ganz einfach »die Fette«. Es sind manchmal brachiale, manchmal subtile Mechanismen der Macht, die Vaid seine Heldin beschreiben läßt, kompromißlos und ohne Schnörkel. Seine Empathie drückt sich in eben diesem Sprachgebrauch aus. Das Tagebuch räumt auf mit zahlreichen, weit verbreiteten Klischees über Arme im Allgemeinen und indische Dienstboten im Speziellen, die als einfältig oder schicksalsergeben gelten und ständig bestrebt sein sollen, einander zu übervorteilen. In Vaids Buch helfen sich die Dienstmädchen und sind sich ihrer Rolle durchaus bewußt.

Shano hat es im Vergleich zu ihren Freundinnen scheinbar gut getroffen. Die Mentorin, die sie zum Tagebuch-Schreiben angehalten hat – Shano nennt sie zärtlich und respektvoll »Biji« -, zieht mit dem »Zeitungssahib« zusammen. Beide wollen, daß Shano bei ihnen lebt. Sie kann in einem richtigen Bett schlafen, lernt Englisch und liest Zeitung. Der neue Lebensabschnitt scheint ihr den gesellschaftlichen Aufstieg zu ermöglichen. Aber im Tagebuch wird nur Shanos Welt beschrieben, es ist vor allem innerer Monolog. Darauf gründet Vaids Dramaturgie: Die Selbstreflexion Shanos – und ihre wie ein Geheimnis gehüteten Zweifel – nehmen im Laufe der Lektüre immer mehr Raum ein: »Plötzlich hatte ich das Gefühl, wir wären gleich. Nicht vom Alter her, sondern vom Status. Als wäre er nicht der Sahib und ich nicht das Dienstmädchen. Jetzt kroch noch eine andere Angst in mein Schweigen.«

Die Befürchtung, daß die wohlmeinenden Herrschaften sie trotz aller Emanzipation und Bildung doch nur als Dienstmädchen betrachten, bewahrheitet sich zum Schluß. Verletzt zieht Shano aus, beschließt aber, Biji ihr Tagebuch anzuvertrauen. Diese großzügige Geste unterstreicht die Engherzigkeit der vermeintlich wohlwollenden Memsahib. So bleibt sich der mittlerweile 85jährige Vaid treu. Zeitlebens hat er in seinen Werken brisante Themen aus ungewöhnlichen Perspektiven betrachtet. Auch sein »Tagebuch eines Dienstmädchens« erweitert mit spitzer, einfühlsamer Feder den Horizont.



Krishna Baldev Vaid: Tagebuch eines Dienstmädchens. Aus dem Hindi übersetzt von Anna Petersdorf, Draupadi Verlag Heidelberg, 285 S., 19,80 Eu

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#6

RE: Vergewaltigungen in Indien/Aufstand der Frauen

in Menschenrechte 25.01.2013 12:23
von Lisadill • 744 Beiträge

Werft den Schleier weg!
Wie aus gegebenem Anlaß: In der Bibliothek des Widerstands ist ein Band über die indische Sozialrebellin Phoolan Devi erschienen
Von Henri Rudolph und David Wagner
»
»Ich war eine Verbrecherin geworden«, hat Phoolan Devi (1963–2001) einmal erklärt. »Aber was sie ein Verbrechen nannten, nannte ich Gerechtigkeit.« Der 13. Band der Bibliothek des Widerstands über diese indische Sozialrebellin war gerade erschienen, als am 16. Dezember in Delhi die 23jährige Jyoti Singh Pandey von sechs Männern bestialisch vergewaltigt, gefoltert und nackt auf die Straße geworfen wurde. 13 Tage später starb sie an den Folgen des Verbrechens, das auch international für Schlagzeilen sorgte: Wie tickt die indische Gesellschaft? Wie können Frauen sich wehren?

Der Band über Phoolan Devi bietet dazu viel Überlegenswertes. Er stellt eine Frau vor, die in einer patriarchalischen, von tief verwurzeltem Kastendenken geprägten Gesellschaft lange keine andere Möglichkeit sah, sich gegen Mißhandlungen und Unrecht zu wehren als mit der Waffe in der Hand, zunächst als Mitglied einer Bande, später als Anführerin. Nach elf Jahren Kerkerhaft ohne Gerichtsprozeß wurde Phoolan Devi begnadigt und begann, als Parlamentsabgeordnete für die Rechte der Frauen zu kämpfen. Am 25. Juli 2001 wurde sie in Neu-Delhi ermordet.

Viele von denen, die in den letzten Tagen in ganz Indien auf die Straße gingen und ein Umdenken in Familie, Schule, Polizei, Gerichtsbarkeit, medizinischem Dienst, Politik forderten, haben von Phoolan Devi nie gehört. Das ist bedauerlich. Unerschrocken gab die »Banditenkönigin« in aller Öffentlichkeit handfeste Hinweise zum Umgang mit alltäglichen Übergriffen: »Wenn ein Mann dich schlägt, schlag zurück. Nicht einmal, sondern zweimal.« 1999 riet sie den Frauen in einem Interview, das im besprochenen Sammelband abgedruckt ist: »Werft euren Schleier einfach weg, zeigt euch! Kämpft bis ans Ende eures Lebens!«

Mohan Bhagwat, ein konservativer Politiker von der hindunationalistischen Volkspartei BJP, meinte nach der Vergewaltigung Pandeys, so etwas gäbe es nur in den Städten, weil Frauen dort einen westlichen Lebensstil angenommen hätten, nicht aber auf dem Land. Als Phoolan Devi nach ihrer Begnadigung 1994 von einem ausländischen Journalisten nach ihren Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt gefragt wurde, gab sie eine Antwort, die heute noch Gültigkeit hat: »Was Sie (in Ihrer blumigen Sprache) Vergewaltigung nennen, das passiert armen Frauen auf dem indischen Land jeden Tag. Es wird davon ausgegangen, daß die Töchter der Armen den Reichen zum Gebrauch zur Verfügung stehen. Sie glauben, daß wir ihr Eigentum sind.« Aktuelle Statistiken bestätigen das. Im vergangenen Jahr wurden in Delhi mehr als 600 Vergewaltigungen angezeigt. Die horrende Dunkelziffer erklärt sich auch damit, daß es nur in einem einzigen Fall zu einer Verurteilung kam. Im Rest des Landes liegen die Dinge ganz ähnlich.

Dem entsprechen die Grundeinstellungen von geistlichen Führern wie Asaram Bapu. Der Hindu erklärte, Pandey hätte im Namen Gottes als Angehörige des schwächeren Geschlechts um Vergebung betteln müssen, und ihr wäre nichts passiert: »Schuld ist niemals einseitig.« So sehen das auch die vielen Politiker, die behaupten, Frauen würden fast immer mit ihrer Einwilligung vergewaltigt. Und Rechtsanwalt Manohar Lal Sharma, der einen der mutmaßlichen Vergewaltiger Pandeys vertritt, erklärte, ihm sei kein einziger Fall bekannt, in dem einer »ehrbaren Lady« Gewalt angetan worden wäre – selbst Unterweltgangster würden »ehrbare Mädchen« nicht berühren. Auf den Prozeß darf man gespannt sein.

Solch hegemonial erscheinende Frauenverachtung läßt gerade bei der weiblichen Landbevölkerung Fatalismus aufkommen. So war es anfangs auch bei Phoonan Devi. »Ich versuchte, mich zu unterwerfen, wie mein Vater es gesagt hatte, aber ich konnte es nicht«, hat sie einmal erklärt. »Es war zuviel Wut in mir.« Gewalt, Hunger, Aussichtslosigkeit ließen sie zur Banditin werden, die blutige Rache an ihren und anderen Peinigern nahm. Erbeutetes Geld ließ sie an Arme verteilen. So wurde sie zu einer Ikone der Unterdrückten und Geächteten, gejagt von Tausenden Paramilitärs, die aus Hubschraubern Bomben über der Chambal-Region abwarfen, in der sich Devi und ihre Kampfgefährten bewegten wie die sprichwörtlichen Fische im Wasser. Als die von den Entbehrungen des ungleichen Kampfes ausgezehrte Bande im Februar 1983 öffentlich die Waffen übergab, wohnten mehr als 10000 Sympathisanten und Neugierige dem Spektakel bei.

In einem Dokfilm, der dem Sammelband beiliegt – »Phoolan Devi – Rebellion einer Banditin« (Regie: Mirjam Quinte, Pepe Danquart, D 1994, 80 min) – sieht man, wie die Titelheldin von einer Dorfgemeinschaft besungen und gefeiert wird. Sie selbst wird im Film in der Haft gezeigt, als kleine, schmächtige, vom Leben gezeichnete Frau mit einem dennoch bezaubernden Lächen. Als die Rede auf ihr widerfahrenes Unrecht kommt, ist ihr klarer, durchdringender Blick in die Kamera voller Haß.

Das Buch geht über Devi und ihr Wirken hinaus. Es enthält aktuelle Standpunkte von Parteien und Organisationen, die sich in der indischen Männergesellschaft für Frauenrechte engagieren. Alle setzen sich für eine Frauenquote im Parlament ein. Seit mehr als zehn Jahren liegen entsprechende Gesetzentwürfe vor. Ihre Umsetzung wird von Chauvinisten zugunsten des eigenen Machterhalts mit fadenscheinigen Argumenten verhindert.

Das abschließende Kapitel ist der »Gulabi Gang« gewidmet, einer relativ jungen Bewegung von Frauen, die pinkfarbene Saris zu ihrem Erkennungszeichen gemacht haben. Bewaffnet mit Schlagstöcken, wie sie die Polizei nicht selten gegen Demonstranten einsetzt, bringen sie Dorfvorsteher, Polizeibeamte oder gewalttätige Ehemänner zum Einlenken. Oft reicht dafür allerdings schon das bloße Erscheinen dieser Bürgerinnenwehr. Um diese Gang aus der Gegend, in der Phoolan Devi im ganz gewöhnlichen Horror heranwuchs, geht es auch auf der zweiten mit dem Band gelieferten DVD »Pink Saris« (Regie: Kim Lunginotto, GB/Indien 2010, 96 min).

»Außerstande, sich einer modernen sozialen Bewegung anzupassen«, mußte das Sozialbanditentum von Phoolan Devi, »auf sich selbst gestellt, unwirksam« bleiben, heißt es am Anfang des Sammelbandes mit Eric Hobsbawm. Devi pflegte in diesem Sinne auch keine Kontakte zur militanten Naxaliten-Bewegung der verbotenen maoistischen KP Indiens, die nach wie vor gegen überkommene Gesellschaftsstrukturen, staatlichen Machtmißbrauch, Unrecht, Diskriminierung und Ausbeutung der sozial Schwächsten kämpft, zu denen die Frauen in ihrer überwiegenden Zahl gehören. Das Kapitel über die Naxaliten hat der langjährige jW-Autor und Südasienkorrespondent Hilmar König verfaßt.

Willi Baer/Karl-Heinz Dellwo (Hrg.): Phoolan Devi – Die Rebellin. Laika Verlag, Hamburg 2012, 176 Seiten, 24,90 Euro

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