Gesang auf hohen Ästen
Ein Experiment mit Nachtigallen
Von Frank Ufen
Wenn der April zu Ende geht, kehren die Nachtigallenweibchen aus afrikanischen Winterquartieren in heimische Gefilde zurück, wo sie von den Männchen erwartet werden. Diese versuchen umgehend, mit virtuosen Arien auf sich aufmerksam zu machen. Von 23 Uhr bis zur Morgendämmerung legen sich die unverpaarten Männchen mit ihren Gesangskünsten unermüdlich ins Zeug, um die Weibchen anzulocken und zu beeindrucken. Sobald sie jedoch eine Partnerin gefunden haben, singen sie bloß noch tagsüber. Sie tun es jetzt in erster Linie, um ihr Revier gegen Rivalen zu verteidigen. Dabei neigen Revierinhaber, die sich von einem Konkurrenten provoziert fühlen, dazu, besonders hastig zu singen oder ihm immer wieder ins Wort zu fallen.
Ob ein Rivale als gefährlich empfunden wird, hängt allerdings nicht allein davon ab, wie er singt, sondern auch davon, wo. Seit zwei Jahren ist bekannt, daß ein Nachtigallenmännchen, das seine Gesänge von verschiedenen Orten aus erschallen läßt, den Revierinhaber damit häufiger zu schrillen Reaktionen herausfordert. Doch welche Reaktionen ruft ein Rivale, der seine Arien schmettert, hervor, wenn er sich auf der Höhe seines Gegenspielers oder darüber befindet?
Um der Sache auf den Grund zu kommen, haben die Zoologen Valentin Amrhein (Universität Basel) und Philipp Sprau (Netherlands Institute of Ornithology) kürzlich ein Experiment durchgeführt. Die Forscher berichten darüber in der aktuellen Ausgabe des Fachmagazins PloS ONE.
Das Experiment fand im elsässischen Naturschutzgebiet »Petite Camargue« statt. Dort spielte man revierbesitzenden Nachtigallen aus 15 Meter entfernten, in unterschiedlichen Höhen angebrachten Lautsprechern Gesänge anderer Männchen vor – und machte eine überraschende Entdeckung. Wurde ein Revierinhaber mit Gesängen aus Lautsprechern konfrontiert, die drei Meter über ihm installiert waren, ließ ihn das ziemlich kalt, und er sang ungerührt weiter. Wurde ein Revierherr hingegen mit Gesängen aus gleicher Höhe konfrontiert, geriet er in helle Aufregung, sang viel schneller und versuchte ständig, seinen vermeintlichen Rivalen zu unterbrechen.
Amrhein und sein Team hatten erwartet, daß Männchen von weiter oben bedrohlicher wirken würden. Denn ein Männchen, das sich hoch oben im Geäst aufhält, setzt sich stärkerem Wind aus und verbraucht deswegen mehr Energie. Außerdem riskiert es, eher von Greifvögeln erspäht zu werden. »Da sich nur Vögel in bester Kondition solche hohen Singwarten leisten können, hatten wir vermutet, daß es eher die höher singenden Rivalen sind, die gefährlicher wirken«, sagt Amrhein.
Warum revierbesitzende Nachtigallen sich von Gesängen aus größeren Höhen kaum aus der Ruhe bringen lassen, ist noch nicht geklärt. Amrhein kennt zwei mögliche Erklärungen. Entweder unterstellen die Nachtigallen, daß hoch oben singende Männchen bloß auf der Durchreise sind. Oder aber diese Männchen wollen gar nicht anderen ihr Revier streitig machen, sondern nur balzen. Wenn es ums Balzen geht, haben die von höheren Ästen aus singenden Freier den Vorteil, daß ihre Gesänge besonders weit zu hören sind.