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Es droht keine überalterte Gesellschaft ,sondern eine ungerechte
in Gesellschaft 02.06.2013 17:35von Lisadill • 744 Beiträge
Ulrike Baureithel
Eine Rechnung ohne Menschen
Demografie Der Rückgang der Geburten wird politisch instrumentalisiert. Es droht keine überalterte Gesellschaft, sondern eine ungerechte
Wer nicht gutwillig gehorcht, sondern sich im Staate wie ein Fremdling und Sonderling anstellt und bis zum 35. Lebensjahre keine Ehe schließt, der soll alljährlich eine Geldstrafe bezahlen und zwar einer aus der obersten Vermögensklasse 100 Drachmen, einer aus der zweiten Klasse 70, aus der dritten 60 und aus der vierten endlich 30 Drachmen.“
Schon der altgriechische Staat hatte seine Methoden, um die mit Eheabstinenz verbundene Kinderlosigkeit zu maßregeln. Der nach Steuerklassen bemessene Strafzoll erinnerte den männlichen Teil der Polis an ihre Bringschuld an Nachkommen. So altertümlich, wie es scheint, ist diese Ablassordnung nicht: So gut wie jedes europäische Land begünstigt Ehe und Kinder qua Steuerrecht und Sozialzulagen, während säumige Kindermacher direkt oder indirekt zur Kasse gebeten werden: In Deutschland etwa müssen Kinderlose seit 2005 0,25 Prozent mehr Beitrag an die Pflegekasse entrichten.
Die eingangs zitierte bevölkerungspolitische Drohkulisse von Plato zieht auch der 2007 verstorbene Frankfurter Soziologe Otto Hondrich in einer posthum veröffentlichten Studie heran, kommt jedoch zu einer gegensätzlichen These: Er spricht vom „Glücksfall des Geburtenrückgangs“ und hebt sich damit wohltuend von den gängigen Untergangsphantasien ab. Sie handeln davon, dass „die Deutschen aussterben“, die Kinderarmut den „Standort Deutschland“ gefährde oder die kommenden Alten ohne Auskommen dahinvegetieren müssten. Hondrich stemmt sich gegen die Vorstellung, die Geburtenrate sei politisch steuerbar. „Demografische Stabilität als Normalität“, wie sie uns Bevölkerungsstatistiker und politische Demagogen gemeinsam mit einer willigen Journaille weismachen wollen, gebe es nicht. Bewegungen in der Bevölkerungsstruktur seien ebenso normal wie tektonische Bewegungen der Erde, nur dass sie von sozialen, nicht von natürlichen Kräften ausgelöst würden.
Seine unaufgeregte Bilanz stellt die positiven Effekte von Bevölkerungsstagnation und sogar -rückgang heraus und steht so in krassem Gegensatz zu jenen demografischen Apokalypsen, die aus dem „Krieg der Generationen“ oder dem „Methusalem-Komplott“ politisches Kapital schlagen. Letztere rechtfertigen den Umbau des Sozialstaates und lenken von anderen politischen Auseinandersetzungen ab – vordringlich der um die ungerechte Verteilung von Ressourcen. Der medial dramatisierte Geburtenrückgang suggeriert eine Alternativlosigkeit des Handelns, gleichgültig, ob es um die Zusatzversicherungen für Krankheit und Alter, Pflegeeinrichtungen oder um Verteilungskämpfe zwischen den Generationen geht. So bot auch der Demografie-Gipfel der Bundesregierung Mitte Mai wieder einmal reichlich Gelegenheit, von der „Überalterung der Gesellschaft“ und der „Altersfalle“, von verwaisten Landstrichen und überforderten Sozialbeitragszahlern zu schwadronieren und Angst zu schüren.
Dabei ist der demografische Diskurs nicht nur alten- und frauenfeindlich, indem er die einen als überflüssig und die anderen als gebärunwillig erklärt, sondern auch selektiv. Denn nicht alle Kinder sind in dieser Republik willkommen. Das in Szene gesetzte Elternglück korreliert mit sozialer Schicht und nationaler Herkunft. Seit der Reform des Elterngeldes 2011 erhalten Hartz-IV-Empfänger kein Elterngeld mehr. (nach alter Regelung bekamen sie immerhin noch 300 Euro). Das Betreuungsgeld können sich überhaupt nur Frauen leisten, deren Männer genügend Geld nach Hause tragen. Gar nicht zu reden von Alleinerziehenden, die keinen Vätermonatspartner haben und Eltern, die nicht zur gut verdienenden Elite gehören. Bei ihnen hört der staatliche Gebärprotektionismus auf.
Stimmen, die sich dem konzertierten Demografenchor entgegenstellen, sind selten und dringen kaum durch, weil das Interesse an der „Biologisierung und Ethnisierung des Sozialen“ (Christoph Butterwegge) in Zeiten der Krise als Deutungsmuster dominant wird. Aber nicht nur die Krisensprache, sondern auch die angeblich wertfreien Bevölkerungsstatistiken haben einen ideologischen Kern.
Wer weiß, was in 50 Jahren ist
Die Bevölkerungsstatik lebt von Annahmen über Geburtenentwicklung und Lebenserwartung. (Zu) wenig Junge stehen angeblich (zu) vielen Alten gegenüber. Nur ein kleiner Bevölkerungsanteil steht im Erwerbsleben, bringt das Bruttosozialprodukt bei, zahlt in die Sozialkassen ein und soll gleichzeitig auch noch die steigende Zahl von Alten betreuen.
Zunächst zu den Fakten: Derzeit wächst die deutsche Bevölkerung trotz einer rechnerischen Lücke von 200.000 zwischen Lebendgeburten und Sterbefällen. Der positive Saldo resultiert aus einem Zuwanderungsgewinn von geschätzten 340.000 Menschen. Von „Entvölkerung“ kann in der Bundesrepublik mit fast 82 Millionen Einwohnern derzeit also kaum die Rede sein.
Richtig ist aber, dass die Geburtenrate – mit kleineren Schwankungen – in Deutschland sinkt, die durchschnittliche Kinderzahl fiel von 2,2 Ende der siebziger Jahre auf rechnerisch derzeit knapp 1,36 je Frau. Ein Grund dafür ist, dass der Anteil der Frauen, der lebenslang kinderlos bleibt, in diesem Zeitraum gestiegen ist. Ein zweiter, dass sich das Alter, in dem Frauen ihr erstes Kind bekommen, nach hinten verschiebt, das heißt Frauen bekommen in der fruchtbarsten Phase heutzutage seltener Kinder als früher. Doch einmal abgesehen davon, dass sinkende Geburtenzahlen von jeher auf steigenden Wohlstand einer Gesellschaft verweisen, meldete das Rostocker Institut für demografische Forschung kürzlich einen gewissen Umkehrtrend, insofern Frauen ab Jahrgang 1969 erstmals wieder mehr Kinder als ihre älteren Schwestern bekommen; für den Geburtsjahrgang 1979 wird die endgültige Kinderzahl voraussichtlich bei knapp 1,6 liegen.
Schon daran lässt sich erkennen, dass Entwicklungskurven sich nicht einfach in 50-Jahre-Intervallen hochrechnen lassen. Reproduktionsentscheidungen sind abhängig von individuellen Lebensstilen, sozialem Umfeld und Ansprüchen an die eigene Selbstverwirklichung. Das gilt auch für die künftige Lebenserwartung: Soziale Verwerfungen, Kriege oder Seuchen sind so wenig berechenbar wie künftiges Gesundheitsverhalten oder der Stand der für alle zugänglichen Gesundheitsversorgung.
Abnehmer der demografischen Prophezeiungen ist die Versicherungswirtschaft, und zwar nicht nur aus mathematischen Gründen. Der Allianz-Chef Michael Diekmann verglich das Thema Demografie kürzlich mit dem Klimawandel: „Wir müssen jetzt handeln“, forderte er im Rahmen eines Demografieforums des Konzerns. „Denn wie beim Klimawandel ist es schmerzhafter, je länger wir warten.“
Es existieren zwei Szenarien über die tatsächliche Entwicklung der zukünftig unbestreitbar älter werdenden Bevölkerung. Die eine besagt, dass sich der Anteil der Jahre, in denen ältere Menschen in Gesundheit leben, erhöht; die andere, dass sich mit der steigenden Lebenserwartung auch die Pro-Kopf-Ausgaben für Gesundheit und Pflege erhöhen. Während das Statistische Bundesamt 2030 mit einer Million Krankenhausfällen und 740.000 Pflegebedürftigen rechnet, zeigen andere Untersuchungen, dass das Risiko, pflegebedürftig zu werden, zwischen 2000 und 2008 bei Männern um rund acht Prozent, bei Frauen sogar um 25 Prozent gesunken ist.
Die Mär von der „Flut“ alter Menschen, die über Gebühr die Sozialkassen und medizinische und pflegerische Ressourcen beanspruchen, widerlegt also zumindest diese Entwicklung; allerdings ist damit nichts gesagt über die Auswirkungen, die etwa die künftige Altersarmut auf die Befindlichkeit und den Gesundheitszustand älterer Menschen hat.
Wie viele arbeiten werden
Was in die Rechnung der demografischen Apokalyptiker aber überhaupt nicht eingeht, ist, dass es künftig nicht nur mehr (vielleicht sogar gesündere) alte Menschen gibt, sondern auch weniger Kinder und nicht erwerbstätige Jugendliche, die – wie etwa in der Babyboomer-Zeit – private und gesellschaftliche Mittel binden. Man muss bei Prognosen also den Gesamtquotienten von jungen und alten Menschen berücksichtigen. Und die Vergangenheit zeigt, dass in den siebziger Jahren, als viele Kinder und Jugendliche zu versorgen waren, die Gesellschaft keineswegs in Armut dahinsichte, während sie sich ein Jahrzehnt später, als es ausgesprochen viele Erwerbstätige gab, mit Arbeitslosigkeit und anderen Problemen herumschlagen musste.
Eine sinkende Zahl von Erwerbstätigen muss also nicht unbedingt dramatische Folgen nach sich ziehen. Es kommt nämlich weniger auf den Anteil an Personen im mittleren Erwerbsalter an als auf den Anteil der Erwerbspersonen an der Gesamtbevölkerung. Und die ist zum Beispiel auch abhängig von der Erwerbsbeteiligung von Frauen. Mit 53 Prozent liegt die Relation von Erwerbspersonen zur Gesamtbevölkerung derzeit so hoch wie nie (im Babyboomer-Jahr 1970 waren es 44,2 Prozent). Auch hier ist nichts gesagt über die Qualität der Arbeitsplätze und die damit verbundene soziale Lage; aber wenn man eine weiterhin steigende weibliche Erwerbstätigkeit und außerdem Einwanderungsgewinne unterstellt, würde der zu erwartende Rückgang von knapp 42 Millionen Erwerbstätigen im Jahr 2012 auf geschätzte 33 im Jahr 2050 immerhin durch Produktivitätsgewinne wettgemacht werden können. Gar nicht davon zu reden, dass es bei einer schrumpfenden Gesamtbevölkerung auch gar nicht mehr so vieler Erwerbstätiger bedarf, um sie zu versorgen.
Viel Konkretes brachte der von Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) ausgerichtete Demografie-Gipfel übrigens nicht. Die Bundesregierung erging sich in Absichtserklärungen, die Familien zu stärken und Teilzeit arbeitenden Frauen die Rückkehr auf eine Vollzeitstelle zu ermöglichen, und die Kanzlerin drohte mit noch längeren Lebensarbeitszeiten. Vor einem Monat hatte Angela Merkel auf einer Veranstaltung des Deutschen Ethikrats noch erklärt, der demografische Wandel zwinge dazu, das „Denken in abgeschlossenen Systemen“ – gemeint war der Nationalstaat – zu überwinden. Auf dem Gipfeltreffen zeigte sie sich in der Zuwanderungsfrage, von dem nordrhein-westfälischen CDU-Vorsitzenden Chef Arnim Laschet provoziert, zurückhaltender. Laschet, der auch CDU-Bundesvize ist, hatte gefordert, die „kollektive Köpersprache“ der Bundesrepulik zu ändern und den weltweiten Zuzug von Arbeitskräften zu forcieren. Die Körpersprache des Innenministers signalisierte eindeutige Abwehr.
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